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KiMiss Falldokumentation

Nr. 22-03: Staatliche Kindeswohlgefährdung (Baden-Württemberg, Kreis Tübingen)

Suizidabsichten eines Kindes sind keine Kindeswohlgefährdung?

Der folgenden Fallbeschreibung liegt die Akte zugrunde (ca. 1000 S., 2020 - 2023). Jugendamt und Amtsgericht Tübingen vertraten inhaltlich folgende Darstellung:
  • Eine Kindeswohlgefährdung liegt nicht vor, und Hilfe ist nicht erforderlich, wenn a) ein Kind Selbsttötungsabsichten formuliert, und b) selbstverletzendes Verhalten entwickelt, und c) mehrfach von Zuhause wegläuft, und d) deshalb regelmäßig in der Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen werden muss, etc.,
    … auch dann nicht, wenn 1) die Fehlentwicklungen mit Kindesentziehung begannen, 2) die Schädigungen des Kindes während laufender Verfahren sich weiter fortsetzen, und 3) es keine Hindernisse gibt, sich einer früheren und besseren Lebenssituation des Kindes wieder anzunähern.

Vorbemerkung zu Kinderschutz & Fall

Der Landkreis Tübingen hat seit Beginn der Datenerhebungen im Jahr 2012 die niedrigsten Melderaten zu Kindeswohlgefährdungen in Baden-Württemberg. Der vorliegende Fall müsste der deutschen Kinderschutzstatistik gemeldet worden sein als: "Keine Kindeswohlgefährdung, weder akut noch latent". Der Fall umfasst 10 Gerichtsverfahren und zeigt mehrfach rein finanzielle Triebkräfte (in Fußnoten ausgelagert, s. u.).

Ausgangssituation des Falles:

Die verheirateten Eltern X und Y betreuten und versorgten das gemeinsame Kind die ersten 11 Lebensjahre praktisch gleichwertig und lebten im gemeinsamen Haus. Gegen die Eltern lag nichts vor, beide mit gutem Einkommen und Bildungshintergrund und einem gleichermaßen guten Verhältnis zum Kind, das bei vollster Gesundheit und glücklich war.
2020 schaffte X sodann Fakten durch Auszug und Kindesmitnahme. Gründe, die das Kind betrafen, lagen nicht vor, dennoch isolierte X das Kind von Y (Späterer Schriftsatz X: um dem Kind die neue Situation zu 'erleichtern').

Amtsgericht:

Den Eilantrag, die (unbegründete und ohnehin gesetzeswidrige) Kindesmitnahme zu untersagen, weil das Kind nach wie vor in seiner gewohnten Umgebung bleiben könne, machte das Gericht durch Verfahrensablauf obsolet. Die Kindesmitnahme konnte also einfach vollzogen werden, aus gleichwertiger Elternsituation heraus.
Als 'Anwältin des Kindes' bestellte der zuständige Richter danach eine Verfahrensbeiständin, die zuvor - so ein anderer Beschluss am selben Gericht - entlassen wurde, weil sie nicht in der Lage sei, Kindeswohl objektiv zu vertreten. Den Antrag, die Beiständin aus diesem Grund zu ersetzen, wies das Gericht zurück; die Beiständin ermittelte sodann auch in diesem Fall den Kindeswillen.
Da die Beiständin erneut fragwürdig vorging, wurde dem Gericht ein KiMiss-Befund vorgelegt, der eine"Gefährdung der Entwicklung des Kindes" vorhersagte , basierend auf einem Kindeswohl-Verlust von 89%. Keiner der Sachverhalte in diesem Befund wurde als relevant gewertet (Kindesmitnahme, Falscheid, Isolation und Beeinflussing des Kindes, etc.).
Das Gericht entschied sodann gemäß Kindeswohl, das Kind solle bei X bleiben, Y erhalte Umgang, dies sei der durch Kindesanhörung ermittelte Kindeswille. Der im Familienrecht verankerte Kontinuitätsgrundsatz erscheint im Beschluss nicht.

OLG:

Y legte daraufhin Beschwerde gegen den Beschluss am OLG Stuttgart ein, welches wie folgt antwortete: Die Beschwerde könne von Y zurückgezogen werden, oder es werde ohne Verhandlung entschieden.
Es wurde Y angelastet, einen KiMiss-Befund vorgelegt zu haben, denn dies komme einem Schlechtreden des anderen Elternteils gleich. Die maßgeblichen KiMiss-Sachverhalte gaben lediglich die Aktenlage wider. Dies war jedoch unerheblich, auch Kindesentzug, Falscheid, etc. betreffend. (Anm.: Dem OLG-Beschluss folgten umgehend gesteigerte Unterhaltsforderungen 1).

Suizidalität & Psychiatrie:

Das Kind, das vor Kindesmitnahme bei voller Gesundheit und glücklich war, zeigte nach 1,5 Jahren unter Hauptaufenthalt X Anzeichen von Suizidalität und Depression, fügte sich Selbstverletzungen zu, flüchtete mehrmals von X, verbunden mit Einweisungen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie, verweigerte phasenweise Essen und Trinken bei X, etc.
Y suchte deshalb das Jugendamt Tübingen auf, denn alle Voraussetzungen für eine Weiterführung der früheren Betreuungssituation existierten unverändert (bei beiden Eltern: Teilzeitbeschäftigung, Hausstand, gesicherte Betreuung, 500m entfernt, etc.). Deshalb, so Y, seien nach wie vor alle Voraussetzungen vorhanden, um "das Rad zurückdrehen zu können".
Ein weiterer KiMiss-Befund stellte zu jener Zeit einen von 89% auf 105% angestiegenen Kindeswohl-Verlust fest, der - durch Überschreiten der kritischen Schwelle von 100% - das Vorliegen einer "Deutlichen Kindeswohlgefährdung" anzeigte. Der Befund wurde von Y nicht mehr vorgelegt, aufgrund der Vorerfahrung mit dem OLG Stuttgart (s. o.).

Kindeswohlgefährdung:

Trotz Kontext von Suizidalität, Psychiatrie und Selbstverletzungen verneinte das Jugendamt Tübingen weiterhin einen Handlungsbedarf und lehnte die Einleitung eines entsprechenden 8a-Verfahrens ab. Das Verfahren wurde deshalb von Y beantragt, auch gemäß §1666 BGB wegen Kindeswohlgefährdung, unter Beantragung eines lösungsorientiert arbeitenden Sachverständigen. Die Hinzunahme eines Psychologen wurde erneut als nicht erforderlich beurteilt.
Das Kind fügte sich zeitgleich, während laufender Verfahren, weitere Selbstverletzungen zu, floh weitere Male von X und hielt sich erneut mehrfach in der Psychiatrie auf. Das beantragte, lösungsorientierte Vorgehen wurde nie verfolgt, denn Maßnahmen, wie z. B. ein 'Runder Tisch', konnten von X einfach abgelehnt werden. Das Jugendamt kam nach Prüfung der Umstände sodann zum Ergebnis: Keine Kindeswohlgefährdung.

Amtsgericht:

Das Gericht entzog Y sodann Aufenthaltsbestimmungsrecht und Gesundheitsfürsorge. Die Berichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in welchen Probleme, Gefährdungslage und Handlungsbedarf konkret aufgezeigt wurden, wurden erneut nicht berücksichtigt, sie erscheinen lediglich in Y's Anträgen.
Das Gericht begründete den Beschluss 1) erneut durch Kindeswille bei Anhörung, 2) Betreuung und Versorgung des Kindes sei "gewährleistet", und 3) Rechteentzug bei Y würde den Elternkonflikt reduzieren ('Ruheargument', was dazu führt, dass ein Elternteil manche Anträge nicht mehr stellen kann, s. u.).

OLG:

Y legte deshalb erneut Beschwerde beim OLG Stuttgart ein, denn das Kind fügte sich weiterhin Selbstverletzungen zu und war erneut mehrfach von X geflohen (bis dahin acht Vorfälle, ca. monatlich). Auch das OLG berücksichtigte die Klinikberichte nicht. Das Kind wurde stattdessen - 14 Tage nach Entlassung aus der Psychiatrie - durch die drei Richter/innen des Senats angehört, der die Entscheidung des Amtsgerichts bestätigte. Die Sichtweise des 13-jährigen Kindes wird wiedergegeben durch die relevante Passage aus dem Protokoll der (achten) Kindesanhörung am OLG Stuttgart:
  • "[Dem Kind] werden die Rechtsbegriffe "Aufenthaltsbestimmungsrecht" und "Gesundheitssorge" erklärt. Es äußert sich wie folgt: So wie es gerade mit dem Umgang läuft, soll es bleiben. Ich möchte nichts daran ändern. So wie ich jetzt bei beiden bin, passt es. Zum Arzt gehe ich lieber mit [X] als mit [Y]."
Das OLG Stuttgart verwendete - 2 Jahre nach Kindesmitnahme und erstmals in der Akte dieses Falles - den Begriff Kontinuität, um eine Nahezu-Alleinsorge durch X zu begründen. Y rügte, dass Sachverhaltsermittlungen zu keinem Zeitpunkt erfolgt seien, stattdessen eine "Kontinuität von Suizidalität" geschaffen werde, solange nicht einmal der Versuch unternommen werde, 'das Rad zurückzudrehen' und die tatsächliche Situation des Kindes verbessern zu wollen.

Zwangsversteigerung des Zuhauses:

Nach OLG-Beschluss betrieb X umgehend die Zwangsversteigerung des Hauses, in welchem das Kind aufwuchs und Y noch wohnte, 500m entfernt von X (Anm.: Die Akte zeigt das Vorgehen von X, das frühere Zuhause des Kindes zu 'eliminieren' 2).
Auch während laufendem Versteigerungsverfahren befand sich das Kind in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Y beantragte deshalb eine Aufschiebung des Verfahrens wegen Kindeswohlgefährdung. Dies wurde erneut verneint, Zitat des Beschlusses: es müsse
  • "ein kausaler Zusammenhang der geltend gemachten gesundheitlichen Probleme mit der möglichen Zwangsversteigerung bestehen [Literatur]. Es müssten durch den Verlust des Eigenheims schwere gesundheitliche und seelische Schäden drohen [Literatur]. Dies liegt jedoch nicht vor."
Die Akte zeigt Vorgänge, die in Bezug auf das Kindeswohl fragwürdig erscheinen 3; das Gericht lehnte auch einen Antrag ab, der begründete, dass hier mutwillig das Zukunftsvermögen eines Kindes vernichtet werde 4.

Das Kind:

Das Kind kam über zwei Jahre hinweg immer weiter zu Schaden. Die Gerichtsverfahren involvierten ca. 10 nicht-psychologische Verfahrensbeteiligte, psychologische Expertise wurde nie eingeholt. Das Kind wurde nie in seinem früheren Zuhause bei bzw. mit Y gesehen oder begutachtet.
Die Akte zeigt praktisch keine Sachverhaltsermittlungen. Die 'Ermittlungen' bestehen aus acht Kindesanhörungen, in welchen sich das Kind in der einen oder anderen Weise für X oder Y aussprechen sollte. Die Antwort des Kindes war stets, in der einen oder anderen Weise: 'Lieber etwas mehr bei X, aber nicht ohne Y'.
In diesem Fall waren alle Versuche erfolglos, Instanzen des Kinderschutzes zu einem lösungsorientierten Vorgehen zu bewegen, um eine frühere und bessere Lebenssituation des Kindes wiederherstellen zu können. Die Versuche wurden überwiegend ignoriert oder sogar behindert.

Hinweis zu

Anwalts-gestützte "Hochstrittigkeit":

Die Gesamtschau der Akte zeigt eine anwaltlich beratene und konstruierte Hochstrittigkeit, die mit Kindesentzug und Falscheid beginnt und aus prozess-taktischen Gründen jede Einigung ablehnt, um sich Rechte am Kind und in Unterhaltsangelegenheiten zu sichern. Die Schriftsätze der Anwältin von X zeigen dies deutlich auf. Die Vorgehensweisen werden seit Jahrzehnten wiederholt und sind durch unzählige Fälle beschrieben und bekannt.
Der Fall repräsentiert die Problematik des sog. hostile-aggressive parentings, eine Problematik, die in Deutschland praktisch nicht behandelt wird (vgl. KiMiss & Wissenschaft).

Fußnoten

1 Das Verfahren zu 'Unterhalt' wurde rasch nach dem OLG-Beschluss zu 'Aufenthalt' beantragt. Y - zuvor noch in 80% Teilzeit wegen Kinderbetreuung - leistete zu jenem Zeitpunkt unaufgefordert 100% Kindesunterhalt. Hauptbegründung im Antrag X: Y gehe nur einer Teilzeit-Beschäftigung nach, der Hauptaufenthalt des Kindes bei X erzeuge nun jedoch "Vollzeiterwerbsobliegenheit" bei Y, entsprechend 120% Kindesunterhalt. Auch jener Antrag von X basiert Akten-nachweislich auf falschem Sachvortrag. Der Antrag fordert des Weiteren die sog. 'gerichtliche Titulierung' des Unterhalts, die umgehende Kontopfändung ermöglicht und erneute Gerichtsverfahren erfordert, wenn Änderungen eintreten.
2 Das (gemeinsame) Haus hätte wenige Monate zuvor verkauft werden können, was Y eine Wohnperspektive in der Nähe der Schule des Kindes eröffnet hätte. Der Verkauf wurde jedoch von X verweigert, um kurz darauf den Antrag auf Zwangsversteigerung einzureichen. Das Vorgehen verfolgt erkennbar das Ziel, dem anderen Elternteil eine Bleibeperspektive in Wohnnähe des Kindes zu erschweren.
3 Der Verneinung von Kindeswohlgefährdung durch das Versteigerungsgerichts lag zugrunde: Y hatte die Beiziehung der Berichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie zum Verfahren beantragt, damit die tatsächliche Lebenssituation aufgeklärt werden könne. X jedoch (seit wenigen Wochen ausgestattet mit alleiniger Gesundheitsfürsorge) untersagte der Klinik die Herausgabe der Berichte zur Situation des Kindes. Das Gericht widersprach dem Vorgehen von X nicht, forderte die Berichte selbst auch nicht an, und lehnte schließlich den Antrag von Y ab, der eine Kindeswohlgefährdung nicht dargestellt habe.
4 Auszug des Antrags von Y: " … Zu § 180 Abs. 2 ZVG: ... Jedoch adressiert §1666 BGB (1) den Vermögensaspekt so: "Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet ...". Die Zwangsversteigerung riskiert Vermögensverlust. ... Die Antragstellerseite hat einen Hausverkauf für [...]€ verhindert ... während ... das Vermögen, um das es hier geht, das Familienvermögen des Kindes betrifft und insofern mit dem Begriff der Kindeswohlgefährdung in Zusammenhang steht. ..."
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