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KiMiss Falldokumentation

Nr. 23-03: Staatliche Kindeswohlgefährdung

Missbrauchsfall Pflegekinder Steinlachtal (Baden-Württemberg, Kreis Tübingen)

Der Fall betrifft drei Pflegekinder. Die Lokalpresse und Der Spiegel berichteten ausführlich.
Eine Psychologin mit ausgewiesener Expertise in Kinder- und Jugendpsychotherapie betreute ein 9-jähriges Mädchen wegen Auffälligkeiten in der Schule. Sie stellte bald fest, dass 'etwas Schwerwiegendes nicht in Ordnung' sein könne und verständigte das Jugendamt Tübingen, ab dem Jahr 2010. Dieses verneinte einen Handlungsbedarf.

Psychologische Expertise

Weil die Psychologin alle drei Kinder in der Pflegefamilie zunehmend als "hoch gefährdet" einstufte, wandte sie sich sodann, über einen Zeitraum von Jahren hinweg, an nahezu alle Zuständigkeiten des Kinderschutzes: den Jugendamtsleiter, den Landrat, die Sozialdezernentin, Regierungspräsidium, u. a. Alle Zuständigen lehnten ihr Anliegen ab. Der Psychologin wurden Diskreditierungen und Repressalien entgegengebracht, dass sie ein "gelingendes Pflegeverhältnis" nicht weiter stören solle.

Die Wahrheit bricht zu Tage

Sieben Jahre später, 2017, brach der Fall durch die Flucht eines der Mädchen zu Tage: die Kinder wurden über Jahre hinweg von den 'Pflegeeltern' schwerst misshandelt, psychisch, seelisch, und sexuell. Die weiteren Untersuchungen brachten Details zu Tage, in einem Ausmaß von Grausamkeit, das hier nicht beschrieben wird.
Auf alle Personen bzw. Zuständigkeiten des Kinderschutzes, die von höherer Ebene aus den Schutz der Kinder von 2010 bis 2017 verhinderten, trifft zu, dass sie die Kinder selbst nie gesehen hatten, eine entsprechende Fachausbildung nie innehatten, untätig blieben, obwohl die Problematik in ihrem Fachbereich lag, oder sie die Psychologin bzw. ihre Einschätzung diskreditierten oder in Abrede stellten.

Das Amtsgericht

Der letzte Schutzfaktor, die leibliche Mutter, wurde dem behinderten Pflegekind zuvor vom Amtsgericht weggenommen, das die Mutter (entgegen einer Sachverständigen-Empfehlung) vom Kontakt zu ihrem Kind ausschloss, weil die Beziehung das Pflegeverhältnis beeinträchtige. Das Mädchen hatte sich zuvor ihrer Mutter anvertraut. Der Umgangsausschluss hatte zur Folge, dass das Mädchen - nunmehr ausschließlich beeinflusst durch die 'Pflegemutter' - von ihrer leiblichen Mutter entfremdet wurde und weitere Missbrauchshandlungen deshalb niemandem mehr anvertrauen konnte.

Die Schutzbehauptungen

Schriftliche Berichte, in welchen die Psychologin die hochgradige Gefährdung des Kindes dokumentierte, wurden ihr mit der Begründung zurückgesandt, man habe Berichte nicht angefordert, weshalb sie auch nicht gelesen würden. Der Psychologin wurde unterstellt, dass sie durch die Berichte nur Geld verdienen wolle. Mehrere Personen der zuständigen Stellen verstrickten sich später in Schutzbehauptungen, die sich als unwahr herausstellten. Eine Strafanzeige gegen den Landrat und weitere Beteiligte wurde nicht verfolgt, Ermittlungen wurden von der Staatsanwaltschaft eingestellt.

Das Sozialministerium Baden-Württemberg

Die Prüfung des Falles erfolgte durch das Sozialministerium Baden-Württemberg, das 2021 zu dem Ergebnis kam, dass " keine durchgreifenden Rechtsfehler" feststellbar seien. Die Stellungnahme des Ministeriums stieß auf Empörung in der Bevölkerung. Das Ministerium stellte sich sodann einer unabhängigen Untersuchung entgegen, weil Datenschutzgründe dem entgegenstünden (u. a. sei eine Anonymisierung/Schwärzung der Akte nicht oder kaum möglich). Eine Aufarbeitung des Falles wurde schließlich vollständig eingestellt, nachdem ca. 40% (130.000€) des dafür veranschlagten Budgets aufgebraucht worden waren.

Die Politik

Die Psychologin hatte über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren hinweg nicht nur alle für Kinderschutz zuständigen Stellen konsultiert, sondern auch PolitikerInnen, die Bürgerbeauftragte des Landes Baden-Württemberg, Jugendhilfeausschuss, etc. In diesem Zeitraum wurden, auch aus der Bevölkerung heraus, knapp 20 berufs-politisch Tätige um Tätigwerden gebeten, auch wegen Opferentschädigung. Ein wirkliches Tätigwerden wurde nie bekannt.

Die Opfer

Die Opfer, die heute erwachsen sind, haben nie eine Entschuldigung gehört und nie eine Entschädigung erhalten. Das behinderte der beiden Mädchen, das ebenfalls über Jahre hinweg schwerst misshandelt und missbraucht wurde, lebt heute als junge Frau in vernachlässigten und verarmten Verhältnissen, allein, und praktisch ohne geeignete Betreuung.

Die Landesregierung Baden-Württemberg

Die Landesregierung Baden-Württemberg lehnt eine Entschädigung der Opfer weiterhin ab. Unterstützung und Hilfe für die Opfer kam in Form von Spenden fast ausschließlich aus der Bevölkerung.
Petitionsschreiben an Ministerpräsidenten Kretschmann persönlich wurden entweder nicht beantwortet, oder durch Standard-Schreiben, in welchen dargelegt wurde, dass der Kinderschutz ein großes Anliegen der Landesregierung sei, etc. … das zuständige Ministerium (das Sozialministerium) werde diesbezüglich Kontakt aufnehmen. Keine/r der PetentInnen kann berichten, dass das Sozialministerium je einen Kontakt gesucht hätte.

Der Kreistag Tübingen

Der Kreistag Tübingen beschloss im Herbst 2023, dass die unabhängige Expertenkommission zur Aufarbeitung des Falles nicht weiter finanziert werde, mit der Begründung, dass keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten seien. Die Kommission hatte in einem kritischen Zwischenbericht auch kritisiert, dass eine wirksame Untersuchung durch überzogene Datenschutzgründe "verunmöglicht" werde.

Die Staatsanwaltschaft

Der Pflegevater wurde für den jahrelangen sexuellen Missbrauch der Kinder zu 5,5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Gegen die Pflegemutter, die laut der Psychologin die eigentliche Haupttäterin ist, ließ die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellen. Die Sichtweisen der Psychologin, insbesondere die jahrelange psychische Gewalt der Pflegemutter und ihre Duldung und Vertuschung der Taten betreffend, wurden also bis heute nie in relevanter Weise berücksichtigt.

Landkreis Tübingen & Jugendamt

Der Landkreis Tübingen hat seit Beginn der Datenerhebungen im Jahr 2012 die niedrigsten Melderaten zu Kindeswohlgefährdungen in Baden-Württemberg. Ein sogenanntes 8a-Verfahren zur Feststellung einer Kindeswohlgefährdung wurde im vorliegenden Fall offenbar nie eröffnet. Demnach wäre der Fall der deutschen Kinderschutzstatistik nie zugeführt worden und die Fälle der drei Kinder erscheinen in der Statistik dann nicht als 'Kindeswohlgefährdungen'.
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