KiMiss-Studie 2024
Probleme der deutschen Kinderschutz-Statistik
1 Abstract
Hintergrund: In Deutschland werden seit 2012 Daten zur Häufigkeit
von Kindeswohlgefährdungen erhoben.
Der vorliegende Artikel analysiert die Daten und ihre Probleme,
um bessere Grundlagen für verlässliche Schätzungen und für ein
epidemiologisches Monitoring von Kindeswohlgefährdungen in Deutschland zu schaffen.
Methode: Die Methodik für Referenzbereiche wird aufgezeigt.
Die Daten zeigen auf der Ebene der Land- und Stadtkreise erheblich
überstreuende Abweichungen, die nicht mehr plausibel sind.
Dies wird am Beispiel des Bundeslandes Baden-Württemberg illustriert.
Ergebnisse: Die seit 2012 erhobenen Daten erlauben derzeit
nur schwache Aussagen zur tatsächlichen Gefährdungslage von Kindern in Deutschland,
insbesondere wegen starker Überstreuungen in den regionalen Meldedaten.
Kinderschutz erfordert Qualitätskontrolle derart, dass Negativ-Befunde
zu Kindeswohlgefährdungen dort zu evaluieren sind, wo potenziell
Unter-Detektion von Kindeswohlgefährdung zu erwarten ist,
umgekehrt sind Positiv-Befunde dort zu evaluieren, wo potenziell Über-Detektion zu erwarten ist.
Schlussfolgerungen: Kinderschutz erfordert die Berücksichtigung
von epidemiologischen Grundgrößen wie Erwartungswerte,
Fehlklassifikationsraten, Dunkelziffer, etc.,
deren Schätzung eine Definition von Referenzbereichen voraussetzt.
Begriffe und Abkürzungen:
- KWG: Kindeswohlgefährdung
- 8a-Verfahren: Verfahren nach § 8a SGB VIII Sozialgesetzbuch (SGB), Achtes Buch (VIII), Kinder- und Jugendhilfe, § 8a Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung: (1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen. ... zur Einschätzung einer KWG
- Gefährdungsquote (in %): Anzahl von 8a-Verfahren mit Ergebnis 'Akute oder Latente KWG', je 100 Kinder und Jugendliche (unter 18 J.)
- Verfahrensquote (in %): Anzahl von 8a-Verfahren je 100 Kinder und Jugendliche (unter 18 J.) 95%-Referenzbereich: Bereich, in welchem 95% der Daten zu erwarten sind.
2 Einleitung
Der Kinder- und Jugendschutz obliegt dem Staat im Rahmen der öffentlichen Fürsorge.
Im Jahr 2012 trat das Bundeskinderschutzgesetz in Kraft, welches
"Umfassende Verbesserungen des Kinderschutzes" anstrebte [1].
Seitdem werden entsprechende Daten erhoben, u. a. zur Häufigkeit und Art von Kindeswohlgefährdungen
[2].
Die Daten sind verfügbar, auf der Ebene des Bundes, der Länder, und der Kreise,
bei Statistischen Landesämtern oder in Regionaldatenbanken.
Die Statistischen Ämter berichten regelmäßig Meldezahlen [3].
So meldeten z. B. Jugendämter im Jahr 2022 bundesweit rund 62.300 Verfahren
zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung [4],
verbunden mit 40% mehr Inobhutnahmen als im Vorjahr [5].
Die tatsächliche Gefährdungslage von Kindern kann regional schwanken.
So ist z. B. die Vermutung naheliegend, dass Gefährdungen in Ballungsräumen häufiger auftreten.
Ein bisher wenig behandeltes Problem jedoch ist,
dass Kinderschutzstatistiken durch zwei Faktoren verzerrt werden:
A) durch Nullsummen infolge von Fehlklassifikationen und
B) Mittelwerts-Verzerrungen infolge von Ausreißer-Werten.
Es wird zunächst das Nullsummen-Problem veranschaulicht.
Es sei beispielhaft angenommen, eine Kinderschutzstatistik
speise sich aus zwei Landkreisen A und B mit je 10.000 Kindern
und die 'wahre' Gefährdungsquote betrage (exakt) 20 Kinder pro 10.000.
Damit wären insgesamt 2 x 20 = 40 Kinder gefährdet.
Die beiden Landkreise verwenden jedoch nicht die gleichen
Kriterien für Kindeswohlgefährdung, so dass in Landkreis A
nur 12 der 20 Kinder als gefährdet angesehen werden,
in Landkreis B jedoch 28 Kinder.
Da insgesamt 12+28=40 Kinder erkannt wurden,
scheint in der Summe ein perfekter Kinderschutz vorzuliegen.
Diagnostisch jedoch treten folgende Fehler auf:
i) Nur 32 der 40 Kinder, die tatsächlich gefährdet waren,
wurden erkannt (A:12 + B:20) und ii) 16 Kinder wurden fehlklassifiziert
(A: 8 falsch-negativ, B: 8 falsch-positiv).
Die Nicht-Berücksichtigung der Fehlklassifikationen erzeugt also fehlerbehaftete Randsummen.
Das Beispiel zeigt, dass Kinderschutzdaten verzerrt sein können.
Die Fehlklassifikationen erzeugen dabei ein sich selbst-verstärkendes Problem:
1) die 'wahre' Gefährdungsquote ist nicht bekannt (es gibt keine eindeutige Diagnose), deshalb ist es
2) nicht möglich, die Zahl der Fehlklassifikationen zu bestimmen, weshalb
3) Mittelwerte nicht verlässlich berechnet werden können,
was zurück zu 1) führt und das Problem verstärkt.
In der vorliegenden Publikation wird gezeigt, dass Referenzbereiche
eingesetzt werden sollten, um solche Fehler zu vermeiden.
Dieses Vorgehen entspricht epidemiologischen Standards
und wird in anderen Feldern im Sozialbereich und der Gesundheitsversorgung umgesetzt.
Nach einer Beschreibung der bundesweiten Daten wird als Praxisbeispiel
das Bundesland Baden-Württemberg näher betrachtet,
dessen Verfahrens- und Gefährdungsquoten so niedrig sind,
dass Plausibilitätsfragen entstehen, bedingt durch Meldezahlen,
die zwischen einzelnen Landkreisen und Jugendämtern so stark schwanken,
dass sie jenseits der Grenzen des Wahrscheinlichen liegen.
Hierdurch wird eine Ausreißer-Problematik erzeugt,
durch welche die zuvor beschriebene Nullsummen-Problematik noch
verstärkt wird und statistische Fehler in erheblicher Größenordnung auftreten können.
So kommentierte z. B. das Statistische Landesamt Baden-Württemberg 2022
die zwischen Landkreisen stark schwankenden Verfahrensquoten:
"dass es sich um eine rein quantitative Darstellung handelt,
die keine umfassenden Rückschlüsse auf die Qualität der regionalen Struktur zulässt."
[6]. Das Zahlenbeispiel oben zeigt demgegenüber,
dass die Relevanz der Daten gerade in der regionalen Streuung liegt,
und es wird ersichtlich, dass das Fehlen von Referenzbereichen eine Orientierungslosigkeit erzeugt,
die selbst Statistische Landesämter in Bedrängnis bringt und Erklärungsnot erzeugt.
Die Problematik Baden-Württembergs war sodann im April 2023
Gegenstand einer Großen Anfrage an die Landesregierung, u. a.
wegen eines Kinderschutzskandals im Kreis Tübingen (s. Anhang).
Die Antwort der Landesregierung umfasste eine Auflistung der Daten, mit Zusatz
"Eine weitergehende Bewertung der regionalen Unterschiede ist der Landesregierung nicht möglich."
[7]. Die Orientierungslosigkeit
durch fehlende Referenzbereiche vererbt sich also
bis in die verantwortlichen Regierungen hinein, die das Wächteramt
über den Kinderschutz innehaben und die Daten entsprechend interpretieren können müssen.
Ein weiteres Problem besteht dann, wenn von den operativen Einheiten des Kinderschutzes
(Jugendämter, Amtsgerichte, etc.) Daten zwar erhoben werden,
die Ergebnisse jedoch nicht in die Praxis zurückfließen.
So stellte z. B. die Bundesregierung bereits 2016 fest:
"Von den knapp 115.700 8a-Verfahren im Jahre 2013 entfallen knapp 43 Prozent
auf Kinder und Jugendliche, die bei einem alleinerziehenden Elternteil leben"
[8]. Paritätische Elternschaft könnte mitunter einen Teil dieser (43%)
Gefährdungen reduzieren [9], es entstand jedoch nicht die Praxis,
dies präventiv zu fördern, um Kindeswohlgefährdungen bei Alleinerziehenden potenziell zu reduzieren.
Es zeigt sich, dass die Nicht-Verfügbarkeit von Referenzbereichen
für viele Institutionen des staatlichen Kinderschutzes Probleme verursacht:
bei den operativen Einheiten des Kinderschutzes angefangen,
über die Statistikämter hinweg, bis hin zu den verantwortlichen Regierungen,
die Kinderschutz gewährleisten müssen,
dies sogar in der Dimension eines verfassungsrechtlichen Ranges und des Grundgesetzes.
Der hier vorgelegte Artikel beschreibt, dass Referenzbereiche
ein Bestandteil eines verlässlichen Kinderschutzes sein sollten,
weil sie eine bessere Abgrenzung zwischen wahrscheinlichen
und unwahrscheinlichen Kindeswohlgefährdungen ermöglichen.
Es wird auf die Notwendigkeit eingegangen, Fehlklassifikationsraten
zu schätzen, weil eine Kinderschutzstatistik sonst verfälschte Mittelwerte erzeugt.
3 Methoden
Siehe Anhang, Abschnitt 7.2 Methoden.
4 Ergebnisse
Zur Vereinfachung der Sprache wird der 'Prozentsatz gefährdeter Kinder'
als 'Gefährdungsquote' bezeichnet. Die 'Verfahrensquote'
beziffert die 'Anzahl von 8a-Verfahren je 100 Kinder'
(Verfahren nach § 8a SGB VIII zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung).
Der Begriff 'Kinder' wird vereinfachend verwendet für die 'Zahl der unter 18-Jährigen'.
KWG: Kindeswohlgefährdung.
4.1 Deutschlandweite Daten
Abb. 1 zeigt die Verfahrens- und Gefährdungsquoten der Jahre 2012 bis 2022.
Die mittlere Gefährdungsquote in Deutschland
betrug während dieser 11 Jahre 0,37% (1 von 270 Kindern).
Verfahrensquoten liegen rund 3-fach höher,
weil durchschnittlich eines von drei Verfahren zum Ergebnis kommt,
dass eine Kindeswohlgefährdung vorliege.
Abb. 1 Deutschlandweite Verfahrens- und Gefährdungsquoten nach Bundesländern

Abb. 1. Verfahrens- und Gefährdungsquoten nach Bundesländern.
Links/rechts: Jährliche Meldezahlen. Mitte oben: Summen der Jahre 2012 - 2022.
Mitte unten: Mittelwerte der Jahre 2012 - 2022.
Der Trend in den jährlichen Meldezahlen wird durch eine Glättungsfunktion veranschaulicht.
Im bundesdeutschen Durchschnitt wird das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung
in etwa einem Drittel der Verfahren bestätigt;
die Gefährdungsquoten betragen also grob 30% der Verfahrensquoten.
Der Referenzbereich der jahres-spezifischen Landesmittelwerte ist hellgrün hinterlegt
(95%-Referenzbereich: innen, 99%-Referenzbereich: außen, etwas heller).
Die mittige oder weiter außen liegende Position eines Bundeslandes wird
durch die Farben Schwarz, Blau oder Rot dargestellt.
Quelle: destatis.de (s. Methoden).
Es liegen große Stichprobenumfänge zugrunde: Zwischen 2012 und 2022
wurden in Deutschland über 1,6 Millionen Verfahren zur Einschätzung
einer KWG geführt und in 543.331 der Verfahren wurde eine
(akute oder latente) KWG festgestellt (s. Tabelleninset in Abb. 1).
Aufgrund der großen Stichprobenumfänge wird statistische Signifikanz
nur zweitrangig betrachtet, da praktisch alle relevanten Unterschiede
statistisch signifikant sind (s. Methoden).
Die Gefährdungsquote von Kindern beträgt in Deutschland
im langjährigen Mittel 0,37% und erhöhte sich von 0,29%
im Jahr 2012 auf 0,44% im Jahr 2022 (Abb. 1).
Im Ländervergleich schwanken Gefährdungsquoten von
0,23% in Baden-Württemberg bis 0,61% in Bremen und Brandenburg,
also grob um den Faktor 3.
Berlin besetzt mit einer durchschnittlichen Gefährdungsquote
von 1,25% eine Ausreißerposition und überschreitet den Referenzbereich der Länder
(s. grün hinterlegter Bereich in Abb. 1).
Der Referenzbereich ist für die Beurteilung von Zufälligkeit relevant und wird weiter betrachtet.
Der 95% Referenzbereich beschreibt denjenigen Bereich, der 95% der Daten enthält (s. Methoden).
Handelt es sich um Landesmittelwerte,
dann beschreibt der 95% Referenzbereich das 95% Konfidenzintervall
des bundesweiten Mittelwertes
(der, in Abwesenheit besserer Maße, die beste Näherung für den 'wahren' Wert darstellt).
Liegt eine Verfahrens- oder Gefährdungsquote nicht im Referenzbereich,
dann handelt es sich um eine signifikante Abweichung.
Dies ist für Berlin der Fall: Es liegt deutlich außerhalb des Referenzbereichs.
Das Beispiel Berlin deutet an, dass Referenzbereiche
wahrscheinlich in Abhängigkeit zusätzlicher Prädiktoren geschätzt werden müssen (s. Diskussion).
Der Abschnitt wird kurz gehalten, weil die Daten bereits berichtet wurden
(z. B. Pressemitteilungen des Statistischen Bundesamtes oder [14])
oder grob bekannt sind. Fragen, wie z. B.,
ob die Häufigkeit von Kindeswohlgefährdungen in Bremen oder Brandenburg
3-fach höher liegen kann als in Baden-Württemberg,
in Niedersachsen oder im Saarland werden zunächst aufgeschoben.
Der Abschnitt diente dazu, A) Referenzbereiche darzustellen,
die sich aus den Daten in Abb. 1 ableiten und B) festzustellen,
dass sich das Gefährdungsrisiko von Kindern in Deutschland grob
um den Faktor 3 unterscheiden kann (maximal um Faktor 5 im Falle von Berlin).
Die genannten Größen (Quotienten, die ein relatives Risiko beschreiben)
werden im Folgenden verwendet, um Schwankungen der Daten auf der Ebene
der Meldeeinheiten (der Jugendämter) besser einordnen zu können.
4.2 Datenbeispiel Baden-Württemberg
4.2.1 Gefährdungs- und Meldequoten 2012-2022
Baden-Württemberg wird als Praxisbeispiel dargestellt,
weil es bundesweit die geringsten Melderaten zeigt (Abb. 1)
und Fragen zur Dunkelziffer entstehen.
Es wird der gesamte 11-Jahreszeitraum berücksichtigt,
um den Einfluss zufallsbedingter Schwankungen zu reduzieren.
Die Gefährdungsquoten von Kindern in Baden-Württemberg
schwanken im langjährigen Mittel um den Faktor 12,
zwischen 0,07% im Kreis Tübingen und 0,86% im Stadtkreis Karlsruhe.
Die Schwankungen sind also stärker als bei den Landesmittelwerten,
die 'nur' um den Faktor 3 bis 5 streuen (s. o.).
Abb. 2 Verfahrens- und Gefährdungsquoten am Bsp. Baden-Württemberg, 2012-2022

Abb. 2. Verfahrens- und Gefährdungsquoten der Land- und Stadtkreise Baden-Württembergs im Zeitraum 2012-2022.
Die jährlichen Meldezahlen werden durch Großbuchstaben dargestellt (s. Inset).
Grün: Quote liegt innerhalb des (jahres-spezifischen) Referenzbereichs;
Rot: Quote liegt außerhalb des Referenzbereichs.
Schwarz: Mittelwerte der Jahre 2012 - 2022.
Die Landkreise sind nach absteigender Verfahrensquote geordnet.
Zur besseren Darstellung sind die stark streuenden Gefährdungsquoten (rechts) auf Log-Skala dargestellt.
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (s. Methoden).
Faktor 12 Zwischen Karlsruhe und Tübingen bedeutet,
in Prozenten ausgedrückt, dass es in Karlsruhe über einen Zeitraum
von 11 Jahren hinweg 1100% mehr gefährdete Kinder als in Tübingen geben müsste.
Dies wird im Folgenden vereinfachend als 'Faktor-12-Problem' bezeichnet.
Es entsteht die Frage, wie Abweichungen von 1100% erklärt werden könnten,
wenn dies die tatsächliche Gefährdungslage von Kindern nicht widerspiegeln kann.
Die Formulierung eines 'Faktor-12-Problems' ist konservativ,
weil die Mittelung über einen 11-Jahreszeitraum Spitzenwerte glättet,
die in einzelnen Jahren vorliegen können.
Den Spitzenwert zeigt das Jahr 2018, mit Gefährdungsquoten,
die sich zwischen Waldshut und Baden-Baden um den Faktor 94 unterschieden (0,016%, 1,5%).
Abweichungen von mehreren tausend Prozent zeigen auf,
dass die Formulierung eines 'Faktor-12-Problems' gemäßigt und konservativ ist,
während die Orientierungslosigkeit zur tatsächlichen Gefährdungslage von Kindern erheblich sein kann.
Das Thema Schwankungen erfordert eine statistische Bemerkung:
Eine höhere Varianz von Kreisdaten gegenüber den Landesmittelwerten ist zu erwarten,
weil die Reduktion des Stichprobenumfangs von Landes- auf Kreisebene den Standardfehler erhöht.
Gerade dieser Punkt erzeugt jedoch eine grundlegende Frage:
Wie viel Zufälligkeit darf ein 'systematischer' Kinderschutz zulassen?
Gefährdungsquoten, die sich um mehrere 1000% unterscheiden können,
ergeben kein realistisches Bild zur tatsächlichen Gefährdung von Kindern,
was die weiteren Daten zeigen.
Die Ergebnisse werden kurz durch statistische Signifikanz veranschaulicht.
Unter der Verteilung der Landesmittelwerte (Abb. 1) würde man
eine Gefährdungsquote von 0,07% in Tübingen nur in einem von 714 Landkreisen erwarten (p=0,0014).
Deutschland hat jedoch nur 401 Stadt- bzw. Landkreise,
so dass die von Tübingen gemeldeten Gefährdungsquoten sehr unwahrscheinlich sind.
Eine Analogie zu Blutdruck kann dies besser veranschaulichen:
Das Tübinger Quantil entspräche einem Blutdruck von ca. 60:90 mmHg
- ein davon betroffener Patient wäre kaum überlebensfähig.
Aufgrund der Abweichungen werden die Daten auf Kreisebene betrachtet.
Dass sich die Gefährdungsquote in einem Landkreis unvermittelt erhöhen kann,
zeigt das Beispiel Zollernalbkreis (Abb. 2):
Die Gefährdungsquote betrug bis 2018 ca. 0,1% und schnellte ab 2019 auf das Zehnfache (ca. 1,0%).
Auch in Tübingen folgte dem Wechsel der Amtsleitung (infolge Missbrauchsskandal, s. Anhang)
eine Verdreifachung der Meldezahlen, während keine Umstände bekannt sind,
die die Gefährdungslage von Kindern im selben Zeitraum lokal erhöht hätten.
Die Beispiele zeigen, dass Melderaten mit den lokalen Meldestellen assoziiert sind.
Deshalb entsteht die Frage, ob nicht auch Baden-Württemberg als 'lokale Gegebenheit'
betrachtet werden muss. Dies führt sodann zur erwarteten Dunkelziffer:
der Zahl von Kindeswohlgefährdungen, die erwartet, jedoch nicht erkannt,
verfolgt oder gemeldet werden.
4.2.2 Nicht-erkannte Kindeswohlgefährdungen
Die weiteren Beschreibungen behandeln das Risiko der
Unter- oder Über-Detektion von Kindeswohlgefährdungen,
andere Einflussfaktoren sind möglich [8, 14].
So zeigt z. B. Abb. 2, dass höhere Gefährdungsquoten
mit Stadtkreisen assoziiert sind und die Bevölkerungsdichte
ein Einflussfaktor sein könnte (s. Diskussion).
Auch ist z. B. denkbar, dass eine niedrige Gefährdungsquote dann vorliegt,
wenn ein Landkreis erfolgreich Prävention betreibt,
z. B. durch wirksame, niederschwellige Hilfsangebote.
Die Untersuchung einer viel-dimensionalen Kausalität wird hier jedoch nicht verfolgt,
weil der Nutzen von Referenzbereichen im Vordergrund stehen soll,
im Folgenden die Vorhersage von Erwartungswerten betreffend.
Die zu erwartende Anzahl nicht-erkannter Kindeswohlgefährdungen
lässt sich aus der Referenzverteilung schätzen (s. Methoden) und ist in Tab. 1 dargestellt.
Es wird ein konkretes Jahr betrachtet, 2022.
Die Gefährdungsquote in Baden-Württemberg schwankte 2022 um den Faktor 24
(Göppingen: 0,042%, Karlsruhe: 1,03%),
so dass das 'Faktor-12-Problem' des Zeitraums 2012 - 2022 (s. o.)
hier als 'Faktor-24-Problem' erscheint.
Demnach müssten, was unplausibel ist, in Karlsruhe 2300%
mehr gefährdete Kinder aufgetreten sein als in Göppingen.
Tab. 1: Erwartete Anzahl von nicht-erkannten Kindeswohlgefährdungen (Bsp. Ba.-Wü., 2022)

Tab. 1. Gemeldete und erwartete Gefährdungsquoten von Kindern
in den Stadt- und Landkreisen (SKR, LKR) Baden-Württembergs, 2022.
Die gemeldete Gefährdungsquote ergibt sich aus der Anzahl gemeldeter Gefährdungen,
standardisiert auf die Anzahl der unter 18-Jährigen.
Die erwartete Gefährdungsquote ergibt sich aus der Referenzverteilung (s. Methoden).
Die erwartete Anzahl von nicht-erkannten Gefährdungen ergibt sich
aus der Differenz von erwarteten und gemeldeten Quoten.
* Der Stadtkreis Karlsruhe zeigt marginale Über-Detektion,
gekennzeichnet durch negatives Vorzeichen.
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (Meldedaten) und Berechnungen wie im Methodenteil beschrieben.
Gemessen am bundesweiten Durchschnitt war für Baden-Württemberg
im Jahr 2022 zu erwarten, dass Kindeswohlgefährdungen
in 2780 Fällen nicht erkannt oder nicht verfolgt wurden,
was einem Drittel (32,6%) der erwarteten Gefährdungen entspricht
(s. Tab. 1: 5746 erkannte vs. 2780 nicht-erkannte Kindeswohlgefährdungen).
Dies entspräche einer Dunkelziffer von 33%,
so dass jede dritte Kindeswohlgefährdung nicht erkannt worden wäre.
Die Nichterkennungs-Quoten schwanken stark,
zwischen 3,9% und 75,4% (s. Tab. 1).
In 18 der 44 Land- und Stadtkreise Baden-Württembergs
wird wahrscheinlich nur jede zweite Kindeswohlgefährdung erkannt (Nicht-Erkennungsquote >50%),
die Kreise Göppingen und Rottweil erkennen bzw. melden
möglicherweise nur jede dritte Kindeswohlgefährdung (Nicht-Erkennungsquoten 75,4% und 66,8%).
Hohe Nichterkennungs-Quoten korrelieren jedoch mit geringen Fallzahlen,
weshalb die Streubreite an dieser Stelle nicht weiter thematisiert wird.
Vielmehr ist dem Gesamtbild Baden-Württembergs Beachtung zu schenken wie folgt.
Baden-Württemberg charakterisiert sich durch Unter-Detektion von Kindeswohlgefährdungen:
43 von 44 Kreisen lassen Unter-Detektion erwarten,
nur der Stadtkreis Karlsruhe zeigt marginale Über-Detektion (Tab. 1, Spalten rechts).
Dies macht eine neue Sichtweise notwendig:
Gemessen am Bundesdurchschnitt ist es möglich,
dass in Baden-Württemberg nicht eine 'geringfügig niedrigere' Gefährdungsquote vorliegt,
sondern Kindeswohlgefährdungen zu oft nicht erkannt bzw. untersucht werden,
und zwar in 98% der Land- und Stadtkreise (Tab. 1, Spalten rechts).
Die Sichtweise ist auf die gesamtdeutsche Situation zu übertragen.
Auch in Bayern liegen ähnliche Streuungsmuster vor (Daten und Analysen nicht gezeigt),
und zusammen mit Niedersachsen und Sachsen stellen sie Bundesländer dar,
in denen Unter-Detektion von Kindeswohlgefährdung wahrscheinlich ist (s. Abb. 1).
Sie stehen Bundesländern wie Bremen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern gegenüber,
wo Über-Detektion wahrscheinlich ist
(abgesehen vom Fall 'Berlin', der separat analysiert werden sollte, s. o.).
Der letzte Absatz führt zurück auf das in der Einleitung illustrierte Zahlenbeispiel.
Das 11-Jahresmittel einer Gefährdungsquote in Deutschland von 0,37%
ist ein Mittelwerts-Fehler aus Unter- und Über-Detektionen unbekannten Ausmaßes.
Wenn in der deutschen Statistik Summen und Mittelwerte gebildet werden
über Kindeswohlgefährdungen, die in Baden-Württemberg oder Bayern 'zu wenig',
und in Bremen oder Brandenburg 'zu viel' postuliert werden,
dann heben sich diese negativen und positiven Fehlklassifikationen auf
und erzeugen eine Statistik, die in unbekanntem Ausmaß verfälscht ist.
Dies nennt man Bias ('Verzerrung').
Die Nicht-Berücksichtigung von Bias im Kinderschutz darf jedoch
nicht zu einem Nullsummen-Problem führen, dergestalt,
dass eine Unter-Detektion von (minus) 2780 nicht-erkannten Kinder in Baden-Württemberg
kompensiert wird durch eine Über-Detektion von (plus) 2780 Gefährdungen anderswo,
mit der falschen Schlussfolgerung, dass jene Kindeswohlgefährdungen nicht existierten.
Es bedarf in der deutschen Kinderschutz-Statistik also der Beachtung
von diagnostischen Maßzahlen, die in der Epidemiologie üblich sind:
falsch-positive und falsch-negative Diagnosen, Fehlklassifikationsrate,
Sensitivität und Spezifität, etc.; dies zur Klärung der Frage:
wann ist eine gemeldete Kindeswohlgefährdung eine wahrscheinliche Kindeswohlgefährdung?
Diese Maßzahlen können nur berechnet werden, wenn Referenzbereiche definiert wurden.
5 Diskussion
5.1 Der Kinderschutz und seine Daten
Das Bundeskinderschutzgesetz strebte an,
"den Umfang von Kindeswohlgefährdungen insgesamt einzuschätzen"
,
u. a. durch verbesserte Datenerhebung und gesteigerte Meldepflichten [8]. Die Datenlage erlaubt nun ein Verständnis der Gesamtsituation über einen Zeitraum von 11 Jahren, basierend auf Stichprobenumfängen, die im Bereich des 'Gesetzes der großen Zahlen' liegen.
Die starken Über-Streuungen und Abweichungen von Gefährdungsquoten zeigen jedoch,
dass die Daten weniger den "Umfang von Kindeswohlgefährdungen"
beschreiben als vielmehr Landkreis-spezifische Vorgehensweisen,
die sich stark unterscheiden können.
Wie im Ergebnisteil dargestellt, ergeben sich daraus Zweifel
an einem systematischen oder reproduzierbaren Kinderschutz in Deutschland,
dargestellt am Beispiel Baden-Württemberg.
ⓘ
Die Notwendigkeit der Qualitätsentwicklung durch regelmäßige Überprüfung
wurde erstmals auch auf Gesetzesebene erkannt:
Das Landeskinderschutzgesetz NRW sieht in §8 (Fn 2) im Abstand von 5 Jahren
die stichprobenartige Überprüfung von Fällen in Jugendämtern vor
Den Ergebnissen wurden konservative Annahmen zugrunde gelegt,
um pessimistischen Vorhersagen vorzubeugen.
Dies betrifft auch die (Varianz-erhöhende) Einbeziehung Berlins
in die Schätzung der Referenzbereiche, was die Toleranz gegenüber Unter- und Über-Detektionen erhöht.
Das Bild zur Qualität im Kinderschutz in Deutschland
fällt unter strengeren Annahmen pessimistischer aus;
dies betrifft auch die Problematik der Unter-Detektion
von Kindeswohlgefährdungen in Baden-Württemberg,
die dann stärker ausfallen würde.
Es wurde einleitend beschrieben, dass fehlerhafte Statistiken entstehen,
wenn falsch-positive und falsch-negative Befunde zu Mittelwerten aufgerechnet werden,
die im Kinderschutz Erwartungswerte vortäuschen, die nicht existieren.
Das hypothetische Zahlenbeispiel der Einleitung wird nachfolgend
an zwei anderen Bundesländern mit konkreten Zahlen veranschaulicht.
5.2 Statistische Fehler
Das Beispiel orientiert sich an den Bundesländern Rheinland-Pfalz und Hessen,
die hinsichtlich soziodemographischer Daten und geografischer Lage
ähnlicher sind als andere Bundesländer.
Die Betrachtung ist konservativ, weil die beiden Bundesländer
nicht die 'extremen' Bundesländer repräsentieren (vgl. Abb. 1).
Nehmen wir an,
Die mittlere Gefährdungsquote läge dann mit 0,465% ([4200+5100]/2 Mio.)
nur geringfügig höher als die tatsächliche Quote von 0,437%,
würde 560 Kinder betreffen (2 x 4370 erwartet vs. 9300 gemeldet),
was einer Fehlklassifikationsrate von 6,4% entspräche (560/8740).
Dieser Wert ist jedoch falsch, denn
die tatsächliche Anzahl von Fehlklassifikationen ist höher, wie folgt.
- eine Gefährdungsstatistik 2022 speise sich aus zwei Bundesländern A und B mit je 1 Mio. Kindern,
- jeweils 4370 der Kinder seien gefährdet (Gesamtdeutscher Mittelwert 2022: 0,437%), und
- es werden folgende Zahlen gemeldet (s. Abb. 1 für 2022): in Bundesland A werden nur 4200 der gefährdeten Kinder erkannt (Bsp. Rheinland-Pfalz 2022: 0.42%), in B demgegenüber 5100 Kinder (Bsp. Hessen 2022: 0.51%).
Wenn - wie in allen Bereichen der Diagnostik -
auch die 'Diagnose Kindeswohlgefährdung' nicht perfekt ist,
weil falsch-positive und falsch-negative Diagnosen existieren,
dann lauten die Fehler des Zahlenbeispiels wie folgt:
in A wurden 170 Gefährdungen 'zu wenig' und in B 730 Gefährdungen 'zu viel' erkannt.
Die Gesamtzahl der Fehldiagnosen betrifft dann 900 Kinder und nicht, wie zuvor, nur 560 Kinder.
Dies führt nicht zu kleinen Zahlen,
denn Tab. 1 zeigt, dass unter einer genaueren Berechnung allein
für Baden-Württemberg Fehlklassifikationen bei ca. 2.780 Kindern pro Jahr zu erwarten sind,
entsprechend ca. 30.000 Kinder im Beobachtungszeitraum 2012 - 2022,
oder deutschlandweit ca. 20.000 Kinder pro Jahr
(vereinfachend hochgerechnet auf 11 Jahre, bzw. ca. 14 Mio.
Kinder und Jugendliche in 2022 bundesweit).
Ein nicht unwesentlicher Teil dieser Fälle wird Kindeswohlgefährdungen betreffen,
die nicht verfolgt werden, weil sie im Bereich 'Trennung und Scheidung' liegen
[15], wo sehr hohe Fallzahlen vorliegen (vgl. Fall 3 des Anhangs).
5.3 Lösung durch Referenzbereiche
Daten, die z. B. vom Kreis Tübingen gemeldet wurden,
sind im bundesweiten Vergleich nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,14% zu erwarten
und sollten unter Deutschlands 401 Land- und Stadtkreisen praktisch kaum auftreten (s. o.).
Dies führt zur Frage: Welche Gefährdungsquoten sind wo zu erwarten?
Eine verlässliche Schätzung von Erwartungswerten setzt verlässliche Daten voraus,
sowohl ihren Absolutwert betreffend als auch ihre Streuung.
Beide Faktoren sind bei der 'Diagnose Kindeswohlgefährdung' jedoch nicht erfüllt.
Referenzbereiche kommen in verwandten Fachbereichen wie Medizin,
Sozialwissenschaften, Epidemiologie, etc. seit Jahrzehnten zur Anwendung.
Deshalb müssen sie auch Einzug finden im Kinderschutz.
Deutschland hat derzeit zwar noch keine gute Datenlage,
um Referenzbereiche für Gefährdungsquoten zu definieren,
hierfür gibt es jedoch eine Lösung: In Abwesenheit eines sog. Goldstandards
(eine Methode, anhand derer ein Problem 'sicher' diagnostiziert werden kann)
ist dazu ein sukzessives Vorgehen erforderlich:
- Daten außerhalb des (aktuell definierten) Referenzbereichs müssen evaluiert werden: in Landkreisen mit Tendenz zu Unter-Detektion müssen Negativ-Befunde ('KWG liegt nicht vor') überprüft werden, in Landkreisen mit Tendenz zu Über-Detektion müssen Positiv-Befunde ('KWG liegt vor') überprüft werden. In diagnostischer Hinsicht ist dies ein Vorgehen zur Verbesserung von 'Sensitivität' und 'Spezifität'.
- Referenzbereiche für Gefährdungsquoten müssen dynamisch (jährlich) angepasst werden, weil a) Ein aktueller Referenzbereich von den Ergebnissen des Vorjahres abhängt, b) ethische Standards, Methoden, und sozioökonomische Faktoren sich zeitlich verändern, und c) zeitliche Trends ohnehin zugrunde liegen (vgl. Abb. 1).
Auf diese Weise werden Referenzbereiche für Kindeswohlgefährdungen
im Laufe der Jahre präziser und es können Schätzwerte erreicht werden,
die verlässlicher sind als heute,
weil Verzerrungen durch Meldeeinheiten korrigiert und eliminiert werden können.
Eine Berechnung der relevanten Wahrscheinlichkeiten ist ohne Referenzbereiche nicht möglich.
Verbesserungen im Kinderschutz erfordern,
dass Landkreise unterhalb des Referenzbereichs ihre Sensitivität erhöhen,
und Landkreise oberhalb des Referenzbereichs ihre Spezifität (s. Punkt 1. zuvor).
5.4 Bedeutung von Referenzbereichen
Referenzbereiche definieren Datenbereiche.
Eine Frage, die für Kindeswohlgefährdungen in der Praxis entsteht, lautet:
Wenn in einer Region 100 Gefährdungen zu erwarten sind,
es werden jedoch nur 50 erkannt oder gemeldet, könnte es dann nicht sein,
dass tatsächlich nur 50 Gefährdungen vorliegen?
Die Antwort ist: Ja, das ist 'möglich', jedoch ist es 'unwahrscheinlich'
und es besteht das Risiko, dass Gefährdungen nicht erkannt wurden.
Grundlage dieses Artikels ist, dass Referenzbereiche für Gefährdungsquoten
von Kindern aus Landesmittelwerten zu schätzen sind,
weil deren Verteilung noch als plausibel bezeichnet werden kann.
Dies trifft für die Daten auf Kreisebene nicht zu,
da massive Abweichungen vorliegen (s. Ergebnisse).
Wenn Gefährdungsquoten auf der Ebene der Landkreise
Abweichungen von über 1000% aufzeigen,
dann können diese Daten nicht mehr verwendet werden,
um Erwartungswerte zu definieren.
Für die Definition von Referenzbereichen müssen dann
Daten einer höher aggregierten Ebene verwendet werden,
z. B. basierend auf Landesmittelwerten.
Methodische Weiterentwicklungen sollten Aspekte wie die folgenden vertiefen (s. o.):
1) Einfluss weiterer Prädiktoren für Referenzbereiche (z. B. Bevölkerungsdichte),
2) Gewichtungen (z. B.: Ist ein Bundesland eine unabhängige Größe oder sollte durch Einwohnerzahl gewichtet werden?),
3) Auf welcher Ebene sind Daten zu aggregieren?,
4) die inhaltliche Sonderstellung Berlins (bzw. die zugrundeliegenden Ursachen), und
5) Weitere Prädiktoren müssten identifiziert und berücksichtigt werden
(z. B. durch random forest Methoden).
5.5 Unter- und Über-Detektion von Kindeswohlgefährdungen
Staatlich assoziierte Kindeswohlgefährdung betrifft zwei Fälle:
Die Nicht-Erkennung primärer Kindeswohlgefährdung infolge von Unter-Detektion und
die Erzeugung sekundärer Kindeswohlgefährdung infolge von Über-Detektion.
Der Begriff sekundäre Kindeswohlgefährdung [16]
beschreibt Kinderschutz-Maßnahmen, die übersteigert sind und dazu führen,
dass eine Maßnahme, die unangemessen ist, betroffene Kinder zusätzlich (sekundär) gefährden kann.
Entsprechende Fälle und Debatten erscheinen regelmäßig in den Medien.
Die Ermittlung eines bundesweiten Bildes zu Kindeswohlgefährdung würde erfordern,
dass die Bundesländer evaluiert werden wie hier gezeigt.
Die Bundesländer lassen sich
- wenn andere Einflussfaktoren wie Versorgungsstrukturen
oder soziostrukturelle Randbedingungen vernachlässigt werden -
auf Basis der 11-Jahres-Daten grob den folgenden drei Fällen zuordnen (s. Abb. 1):
- Gefahr der Unter-Detektion von KWG bzw. Nicht-Erkennung primärer KWG ist zu erwarten in: Baden-Württemberg, Niedersachsen, Saarland, Bayern, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt.
- Potenzielle Über-Detektion von KWG bzw. sekundäre KWG ist zu erwarten in: Bremen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Berlin (Sonderfall, s. o.).
- Übrige Bundesländer (Intermediäre Konstellation, die Unter- / Über-Detektion in balancierter Weise erwarten lässt): Thüringen, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz.
5.6 Statistische Fehler unter der 'Großen Unbekannten'
Wenn, wie im Beispiel Baden-Württembergs, Meldezahlen zwischen Jugendämtern
in einem 11-jährigen Mittelwert um den Faktor 12 schwanken, ist die Frage zu klären,
weshalb es Regionen geben könnte, in welchen 1100% mehr Kindeswohlgefährdungen auftreten.
Von einem systematischen Kinderschutz wäre z. B. zu erwarten,
dass Sofortprogramme greifen, wenn in einem Landkreis 1100% mehr gefährdete Kinder
auftreten als in anderen Regionen des Bundeslandes.
Für die Betrachtung von Kinderschutzdaten sind Risikoquotienten relevant (Relatives Risiko).
Risikoerhöhungen um den Faktor 2 oder 3 werden oft als beachtlich eingestuft,
umso mehr, wenn statistische Signifikanz vorliegt
(vgl. Rauchen/Lungenkrebs, Zuckerkonsum/Diabetes, o. ä.).
Risikoerhöhungen um den Faktor 2 bis 3 entsprechen Abweichungen von 100% bis 200%,
und ab solchen Größenordnungen entsteht in der Regel Handlungsbedarf, Interventionsbedarf, etc.
Dies soll die Risiko-Dimensionen veranschaulichen, die im Folgenden erörtern werden.
Es wurde dargestellt, dass 1) die aggregierten Daten der Bundesländer noch plausibel erscheinen,
wenn Gefährdungsquoten um den Faktor 3 - 5 schwanken, also um 200% bis 400%, und
2) dass die Betrachtungen konservativ sind,
wenn Abweichungen von bis zu 9300% in einzelnen Jahren auftreten,
was eher Systeme charakterisieren würde, die außer Kontrolle geraten sind.
Die große Unbekannte ist die tatsächliche Gefährdungsquote,
weil Deutschland gegenwärtig keine verlässliche Statistik
über Kindeswohlgefährdungen erstellen kann.
Drei Ursachen liegen zugrunde:
1) Das Fehlen von Standards und Methoden bei der Einschätzung von Kindeswohlgefährdung,
2) regional unterschiedliche Vorgehensweisen, die unterschiedliche Meldequoten erzeugen, und
3) das Fehlen wirksamer Kontrollstrukturen und geeigneter Fachaufsichten.
5.7 Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Zur Verbesserung des Kinderschutzes in Deutschland werden im Folgenden
sechs Aussagen aufgelistet, die, um Länglichkeit zu vermeiden,
plakativ verkürzt werden.
Vorschläge zur Optimierung der Datenerfassung im Kinderschutz
wurden auch ausführlicher vorgetragen [17].
- Ein Land muss in der Lage sein, die Landkarte seiner Kindeswohlgefährdungen zeichnen zu können. Die Grundlagen hierfür sind gegenwärtig nicht hinreichend gut erfüllt.
- Qualität im Kinderschutz in Deutschland kann durch Referenzbereiche für Gefährdungsquoten verbessert werden. Hierzu sind die in der Diagnostik üblichen Methoden zugrundzulegen (Sensitivität, Spezifität, Fehlklassifikationsrate, etc.).
- Landesregierungen müssen erkennen können, wenn in Landkreis A 1000% mehr Kindeswohlgefährdungen auftreten als in Landkreis B (vgl. Einleitung). Hierzu ist ein epidemiologisch bundesweites Monitoring unter Referenzbereichen zu etablieren.
- Die deutschen Kinderschutzdaten beschreiben bislang weniger die Gefährdungslage von Kindern als vielmehr die Vorgehensweisen der zuständigen Regionalbehörden. Deshalb sollten die Daten zur Qualitätskontrolle verwendet werden wie hier gezeigt.
- Klärungsbedarf besteht in Regionen mit zu hohen oder zu niedrigen Meldequoten. Sensitivität ist dort zu verbessern, wo Unter-Detektion von Kindeswohlgefährdung zu erwarten ist, Spezifität ist dort zu verbessern, wo Über-Detektion zu erwarten ist.
- Die Entscheidung, ob ein Kind gefährdet ist oder nicht, darf nicht davon abhängen, ob das Kind links oder rechts einer Kreisgrenze wohnt. Die Überstreuungen in den gegenwärtigen Daten zeigen, dass diese Problematik vorliegt (vgl. Abb. 2).
6 Literatur
- [1] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Das Bundeskinderschutzgesetz. 2023. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/kinder-und-jugend/kinder-und-jugendschutz/bundeskinderschutzgesetz/das-bundeskinderschutzgesetz-86268.
- [2] Statistisches Bundesamt. Genesis-online: Die Datenbank des Statistischen Bundesamtes. https://www-genesis.destatis.de/genesis/online.
- [3] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilungen. https://www.destatis.de/SiteGlobals/Forms/Suche/Presse/DE/Pressesuche_Formular.html?nn=206104.
- [4] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung-304. Kindeswohlgefährdungen 2022: Neuer Höchststand mit 4 % mehr Fällen als 2021. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/08/PD23_304_225.html.
- [5] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung-246. Inobhutnahmen im Jahr 2022 wieder stark gestiegen: 40 % mehr Fälle als im Vorjahr. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/06/PD23_246_225.html.
- [6] Statistisches-Monatsheft. 10 Jahre Statistik zur Kindeswohlgefährdung: Deutlicher Anstieg der Verfahren 2012 bis 2021. 2022 https://www.statistik-bw.de/Service/Veroeff/Monatshefte/PDF/Beitrag22_12_03.pdf.
- [7] Landtag Baden-Württemberg. Antwort der Landesregierung Baden-Württemberg zur Großen Anfrage "Kinderschutz und Aufarbeitung von Kindesmissbrauchsfällen". 2023. https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP17/Drucksachen/4000/17_4651_D.pdf.
- [8] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Bericht der Bundesregierung - Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes. 2016. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/bericht-der-bundesregierung-evaluation-des-bundeskinderschutzgesetzes-96262.
- [9] Duerr HP, Hautzinger M. Quantifying the Degree of Interparental Conflict - the Spectrum Between Conflict and Forms of Maltreatment and Abuse. Child Indicators Research. 2019;12(1): 319-30.
- [10] Statistisches Landesamt Baden-Württemberg. https://www.statistik-bw.de/SozSicherung/KindJugendhilfe/.
- [11] Gupta AK, Nadarajah S. Handbook of beta distribution and its applications. New York: Marcel Dekker; 2004. viii, 571 p. p.
- [12] Jud A, Kindler H. Übersicht Forschungsstand sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen im deutschsprachigen Raum. Berlin: Kindesmissbrauchs AdUBfFds; 2019. https://www.comcan.de/fileadmin/downloads/200917_UBSKM_Expertise_V4.pdf.
- [13] Witt A, Glaesmer H, Jud A, Plener PL, Brahler E, Brown RC, Fegert JM. Trends in child maltreatment in Germany: comparison of two representative population-based studies. Child Adolesc Psychiatry Ment Health. 2018;12:24. Epub 20180525. doi: 10.1186/s13034-018-0232-5.
- [14] AKJStat Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut und Technische Universität Dortmund. Kinder- und Jugendhilfereport Extra 2021. https://www.akjstat.tu-dortmund.de/fileadmin/user_upload/Kinder-_und_Jugendhilfereport_Extra_2021_AKJStat.pdf.
- [15] KiMiss-Projekt der Universität Tübingen. Datenbericht zur KiMiss-Studie 2016/17. https://www.kimiss.uni-tuebingen.de/de/2016report.html.
- [16] Körner W, Hörmann G. Staatliche Kindeswohlgefährdung?: Juventa Verlag; 2019.
- [17] Jud A, Kindler H. Verbesserung der Datenerhebung sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Hellfeld. 2022. https://beauftragte-missbrauch.de/fileadmin/user_upload/Publikationen__Expertisen_und_Studien/Expertise_UBSKM_Hellfeld_2022.pdf.
- [18] Wikipedia. Staufener Missbrauchsfall. 2023 https://de.wikipedia.org/wiki/Staufener_Missbrauchsfall.
- [19] KiMiss-Projekt der Universität Tübingen. KiMiss Falldokumentation 23-03: Missbrauchsfall Pflegekinder Tübingen Steinlachtal. https://www.kimiss.uni-tuebingen.de/de/ki_case2303.html.
- [20] KiMiss-Projekt der Universität Tübingen. KiMiss Falldokumentation 22-03: Suizidabsichten eines Kindes sind keine Kindeswohlgefährdung? https://www.kimiss.uni-tuebingen.de/de/ki_case2203.html.
7 Anhang
7.1 Fallbeispiele zum Thema
Die Beschreibung der Daten wird ergänzt durch Fallbeispiele aus der Praxis in Baden-Württemberg,
das bundesweit die geringsten Meldequoten zeigt (Abb. 1).
Die Relevanz von Referenzbereichen wird zuerst
durch zwei Missbrauchsfälle aufgezeigt und ergänzt durch einen Sorgerechtsfall,
ebenfalls aus dem Kreis Tübingen, dessen untere Extremposition in Abb. 2 dargestellt wurde.
Die drei Fälle zeigen, auf welche Weise Referenzbereiche
die betreffenden Landkreise bereits im Vorfeld als 'Risikokreise'
für falsch-negative Befunde identifiziert hätten.
7.1.1 Fall 1: Missbrauchsfall Staufen, Breisgau-Hochschwarzwald, ca. 2015-2017
Kurzbeschreibung des Falles: Ein Mädchen und ein Junge im Alter von 3 und 7 Jahren
wurden im Zeitraum 2015-2017 sexuell schwerst misshandelt,
durch die Mutter des Jungen, ihren Partner, und einen Pädophilenring.
Sie misshandelten den Jungen nicht nur selbst, systematisch und über Jahre hinweg,
sondern boten die Kinder gegen Geld auch anderen an.
In der betreffenden Region wurde massives Versagen des Kinderschutzes festgestellt,
sodann untersucht durch eine Kinderschutzkommission,
die erheblichen Verbesserungsbedarf verlangte.
Ausführlichere Informationen sind online verfügbar [18].
Referenzbereich zu Fall 1: Der Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald
bewegte sich mit seiner mittleren Gefährdungsquote von 0,13%
stets an der unteren Grenze des Referenzbereichs und unterschritt
diesen in den Jahren 2013, 2015, 2019 und 2020.
Der Referenzbereich zeigte ein Risiko für Unter-Detektion
von Kindeswohlgefährdung in jenem Landkreis bereits 2013 und 2015 an,
also 4 bzw. 2 Jahre vor der Verhaftung der Mutter und ihrem Partner.
Ein Vorgehen zur Erhöhung von Sensitivität hätte verlangt,
die mehrfach getroffenen Negativ-Befunde ('Kind ist nicht gefährdet') zu überprüfen,
da der Referenzbereich ein Risiko für falsch-negative Befunde in jenem Landkreis vorhersagte.
7.1.2 Fall 2: Missbrauchsfälle Steinlachtal, Tübingen, ca. 2010-2017
Kurzbeschreibung des Falles: Eine Psychologin mit ausgewiesener Expertise
in Kinder- und Jugendpsychotherapie betreute ein Pflegekind in einer Pflegefamilie.
Sie stellte fest, dass etwas Schwerwiegendes nicht in Ordnung sein könne
und involvierte das Jugendamt Tübingen, auch wegen zweier weiterer Pflegekinder.
Das Jugendamt wies ihre Bedenken zurück, ab dem Jahr 2010.
Die Psychologin konsultierte sodann alle Instanzen des Kinderschutzes,
die den Schutz der Kinder jedoch ebenfalls ablehnten
(Jugendamtsleiter, Landrat, Sozialdezernentin, etc.).
Sieben Jahre später, 2017, stellte sich heraus,
dass die 'Pflegeeltern' die Kinder schwerst misshandelten und missbrauchten,
sexuell, körperlich, und seelisch. Der Fall erlangte Medienöffentlichkeit,
weil schwerwiegende Fehler zu Tage traten und das
Sozialministerium Baden-Württemberg 2021 nach "rechtlicher Prüfung" darstellte,
es seien "keine durchgreifenden Rechtsfehler" aufgetreten.
Ausführlichere Informationen sind online verfügbar [19].
Referenzbereich zu Fall 2: Der Landkreis Tübingen unterschreitet
mit seiner langjährigen Gefährdungsquote von 0,07% den Referenzbereich
seit Beginn der Datenerhebungen im Jahr 2012 erheblich (s. Abb. 2).
Aufgrund der extremen Außenseiterposition hätte der Landkreis Tübingen
ab 2012 als Risiko-Landkreis wegen Unter-Detektion
von Kindeswohlgefährdung kategorisiert werden müssen.
Das im Ergebnisteil beschriebene Vorgehen zur Erhöhung von Sensitivität
hätte im Kreis Tübingen nicht erlaubt, dass die Institutionen
des Kinderschutzes den qualifizierten Positiv-Befund der Psychologin
über Jahre hinweg negieren konnten.
7.1.3 Fall 3: Familiengerichtlicher Fall, Tübingen, ca. 2020-2024
Der Fall wird den Missbrauchsfällen 1 und 2 gegenübergestellt,
weil die Problematik der Daten nicht nur Einzelfälle betrifft,
sondern eine sehr große Anzahl von Fällen in Familien- und Sorgerechtsangelegenheiten,
deren Häufigkeit 1000-fach höher anzusiedeln ist als Missbrauchsfälle,
was insofern ein Problem epidemiologischen Ausmaßes erzeugt.
Kurzbeschreibung des Falles: Jugendamt Tübingen und Amtsgericht
Tübingen trafen in diesem Fall inhaltlich folgende Beurteilung:
Eine Kindeswohlgefährdung liegt nicht vor, wenn ein Kind
a) Selbsttötungsabsichten formuliert, und
b) selbstverletzendes Verhalten entwickelt, und
c) mehrfach von zuhause wegläuft und flüchtet, und
d) deshalb regelmäßig in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt wird, etc.
Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung wird einer solche Beurteilung vermutlich nicht zustimmen.
Ausführlichere Informationen sind online verfügbar [20].
Referenzbereich zu Fall 3: wie für Fall 2 bereits für Tübingen dargestellt. In beiden Fällen, also unabhängig davon, ob es sich um einen extremen Fall handelt, treten die folgenden Parallelen auf: 1) Abwesenheit von Standards (z. B. Einbindung Psychologischer Expertise betreffend), 2) Hilfe und Schutz für Kinder wird letztlich von den für Kinderschutz zuständigen Instanzen verhindert (Jugendamt, Amtsgericht), 3) Ein falsch-negativer Befund 'Es liegt keine Kindeswohlgefährdung vor' wird aufrechterhalten, auch dann, wenn die Datenlage dies nicht mehr erlaubt und die Beurteilung der Institutionen die Sichtweise der Bevölkerung verlassen hat.
7.2 Methoden
7.2.1 Referenzbereiche
Im vorliegenden Kontext werden Referenzbereiche für Kindeswohlgefährdungen entwickelt.
Die Landesdaten wurden beim Statistischen Bundesamt abgerufen [2],
die Daten des Anwendungsbeispiels beim Statistischen Landesamt Baden-Württemberg
[10].
Referenzbereiche dienen der Bereichsbestimmung von Daten.
Ein 95%-Referenzbereich beschreibt den Bereich, der 95% der Daten enthält,
d.h. den Bereich zwischen den Quantilen 2,5% und 97,5%.
Referenzbereiche sind in der Medizin weit verbreitet (z. B. Blutbild)
und werden meist 'Normbereiche' genannt. Werte außerhalb des Referenzbereichs werden,
je nach Thematik, als auffällig, unwahrscheinlich, überprüfenswert, etc., behandelt.
Zur Schätzung der Quantile wird eine geeignete Verteilung an die Daten angepasst,
aus dieser werden sodann die Quantile und der Referenzbereich bestimmt.
Geeignet in diesem Fall ist die Beta-Verteilung [11],
weil sie die Eigenschaften von asymmetrisch verteilten Anteilen statistisch geeignet behandelt:
Gefährdungsquoten sind Anteile und die Daten zeigen erhebliche Asymmetrie (Schiefe).
Eine Anpassung der Beta-Verteilung an Daten ist durch gängige Statistikprogramme möglich;
im vorliegenden Fall wurde die Statistik-Software JMP 16.2 (SAS Institute Inc.) verwendet.
Die in Abb. 1 verwendeten Referenzbereiche der Landesmittelwerte wurden jahres-spezifisch geschätzt mit folgenden Schätzwerten für die Gefährdungsquoten:
Beta2012(4.71, 1601.3),
Beta2013(5.13, 1731.0),
Beta2014(4.92, 1567.0),
Beta2015(3.96, 1167.4),
Beta2016(4.13, 1209.7),
Beta2017(6.23, 1836.7),
Beta2018(6.60, 1773.3),
Beta2019(5.88, 1442.2),
Beta2020(6.32, 1427.1),
Beta2021(5.29, 1217.1),
Beta2022(5.49, 1251.4).
Der 95%-Referenzbereich bestimmt sich aus den Quantilen 2,5% und 97,5%,
der 99%-Referenzbereich aus den Quantilen 0,5% und 99,5%.
Berlin wurde in den Schätzungen nicht ausgeschlossen,
weil im vorliegenden Artikel der konzeptionelle Ansatz
ohne spezielle Annahmen beschrieben werden soll.
Der Einschluss Berlins wirkt Varianz-erhöhend,
verbreitert den Referenzbereich und stellt insofern
ein konservatives Vorgehen dar.
Ob dies gerechtfertigt ist,
müssen weitergehende Untersuchungen zeigen (s. u.: multivariate Schätzungen).
Die Verteilung der Landesmittelwerte wird zugrunde gelegt,
weil sie (mit Abweichungen von 200% bis 400%) eine Streuung zeigt,
die als 'noch plausibel' bezeichnet werden kann (siehe Ergebnisse).
Dies trifft für die Daten auf Kreisebene nicht zu:
dort treten Abweichungen von über 1000% auf,
was für Gefährdungsquoten von Kindern nicht mehr plausibel ist.
Landesmittelwerte sind naheliegend,
denn Kinderschutz untersteht den Landesregierungen und ein
Bundesland kann insofern als statistisch unabhängige Einheit betrachtet werden.
In den Bundesländern bestehen denn auch unterschiedlich gut ausgebaute Netzwerke
an niederschwelligen Angeboten, die problematische familiäre Situationen auffangen können,
bevor sie sich zu einer Kindeswohlgefährdung ausweiten.
Für Deutschland fehlen bundesweite Populationsstudien mit Jugendlichen
zur Erfassung der Betroffenheit von Kindesmisshandlung [12].
Populationsstudien mit Erwachsenen weisen auf deutlich höhere Betroffenheitswerte
als die Häufigkeit bekannt gewordener Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII hin
[13].
Problematisch dabei ist, dass Studien mit Erwachsenen
bis teilweise über 90 Jahren die Häufigkeit von Kindesmisshandlung vergangener Generationen erfassen.
Referenzbereiche beschreiben demgegenüber den Rahmen erwartbarer Kindeswohlgefährdungen.
7.2.2 Referenzverteilung und Erwartungswerte
Die für einen bestimmten Landkreis und ein bestimmtes Jahr
erwartete Zahl von Kindeswohlgefährdungen (KWG) lässt sich
aus der Referenzverteilung der Landesmittelwerte schätzen.
Die Beispielberechnungen in Tab. 1 werden auf der Basis
der Daten des Jahres 2022 durchgeführt, mit
Beta2022(α = 5.49, β = 1251.4).
Die Erwartungswerte errechnen sich dann wie folgt:
Die für einen Landkreis i im Jahr j erwartete Zahl von KWG
(Ei,j) wird, unter Beibehaltung des Quantils, in zwei Schritten berechnet:
1) Bestimme das Quantil Qi,j des Landkreises i in den Kreisdaten:
Qi,j | Beta j(α, β),
2) Bestimme die erwartete Zahl von KWG in Landkreis i
unter Beibehaltung des Quantils aus der Referenzverteilung:
Ei,j = Betaj (α, β | Qi,j ).
Die erwartete Anzahl nicht-erkannter KWG berechnet sich dann
aus der Differenz von erwarteten und gemeldeten KWG,
Ei,j - Bi,j (E: erwartet, B: beobachtet).
Die erwartete Dunkelziffer berechnet sich, wie in Tab. 1 durchgeführt,
entsprechend aus dem Quotienten, 1 - (Bi,j / Ei,j).
Die Verteilung der Kreis-Mittelwerte wurde durch die Häufigkeit
der unter 18-jährigen in der Bevölkerung gewichtet
(weil ein Kreis als abhängige Einheit unterhalb eines Bundeslandes betrachtet wird).
Die Verteilung der Landes-Mittelwerte wurde nicht gewichtet,
weil jedes Bundesland als unabhängige Einheit betrachtet wird (Stichwort Landesrecht).
In der Diskussion wird auf weitere Probleme eingegangen, z. B.
1) dass eine Schätzung von Referenzbereichen die Berücksichtigung
weiterer Prädiktoren und Kovariaten erfordert (z. B. Bevölkerungsdichte) und
2) die Notwendigkeit, Referenzbereiche dynamisch (jährlich) anzupassen.
7.2.3 Statistische Signifikanz
Statistische Signifikanz wird nur untergeordnet betrachtet,
da aufgrund der hohen Fallzahlen viele Unterschiede hochsignifikant werden.
So liegt z. B. die Gefährdungsquote in Deutschland im Jahr 2022 bei 0.437%,
das zugehörige (F-exakte) 95%-Konfidenzintervall beträgt dann 0.4336% bis 0.4404%.
Demgegenüber streuen die Werte der Länder in jenem Jahr zwischen 0.152% und 1.482% (Ba-Wü, Berlin).
Die p-Werte solcher Vergleiche gehen aufgrund der großen Fallzahlen
gegen Null und statistische Signifikanz ist praktisch stets über-erfüllt.
Grob vereinfachend kann davon ausgegangen werden, dass Unterschiede,
die in diesem Artikel mit bloßem Auge erkennbar sind, auch statistisch signifikant sind.
_____________________________
1 Nov. 2024, KiMiss-Institut Tübingen, www.kimiss-institut.de, duerr@kimiss-institut.de
1 Nov. 2024, KiMiss-Institut Tübingen, www.kimiss-institut.de, duerr@kimiss-institut.de