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Wissenschaft

KiMiss - Eine Einführung

Kindeswohl-Verlust durch feindselig-aggressive Elterntrennung: Erkennen, Bestimmen, Handeln

Zitation: Dieser Buchbeitrag ist erschienen in, und ist zu zitieren als "Wilhelm Körner, Georg Hörmann (Hg.): Familienrechtliche Gutachten und Verfahren auf dem Prüfstand. Informationen für Betroffene, Sachverständige, Juristen, Psychologen und Jugendamtsmitarbeiter. LIT Verlag, Berlin, Münster u. a., 2023". ISBN 978-3-643-15463-7, www.lit-verlag.de/isbn/978-3-643-15463-7. Autorenexemplar.

Einleitung

Es gibt Formen von Kindesmisshandlung und -missbrauch, die von den Institutionen des Familienrechts und des Kinderschutzes nicht erkannt werden. Die Rede ist von nicht-körperlichen Formen der Misshandlung und nicht-sexuellen Formen des Missbrauchs, zum Beispiel emotionalen Missbrauch oder psychische Misshandlung betreffend. In Deutschland steht die Problematik in besonderem Zusammenhang mit dem Begriff der Kindeswohlgefährdung und dem Umstand, dass der Begriff 'Kindeswohl' als unbestimmter Rechtsbegriff gehandelt wird.
Eine fehlende Kindeswohl-Definition und das Nicht-Erkennen bestimmter Missbrauchsformen hat verhängnisvolle Konsequenzen: Ein Kinderschutzsystem, das emotionalen Missbrauch oder psychische Misshandlung nicht erkennt, dann jedoch dem familienrechtlichen Prinzip 'Hilfe statt Strafe' folgt, wird am Ende Beihilfe zu solchen Formen des Missbrauchs leisten. Die Umstände werden in den späteren Abschnitten beschrieben.
Etwa jedes zehnte Kind unter Trennung und Scheidung der Eltern ist von schweren Misshandlungen oder Missbrauchserfahrungen betroffen (Gilbert et al., 2009). Die tatsächlichen Fallzahlen werden unterschätzt, weil nur bestimmte Formen von Misshandlung und Missbrauch berücksichtigt werden (Fallon et al., 2010) und nur ein Teil der Missbrauchsfälle die Meldesysteme des Kinder- und Jugendschutzes erreicht (MacMillan/Jamieson/Walsh, 2003). Probleme erzeugen die Begriffe des emotionalen Missbrauchs und der psychologischen oder psychischen Misshandlung - sie schweben oft hypothetisch und undefiniert im Raum. Im Kontext von hochstrittiger Elterntrennung ist das mit einer Ursache assoziiert, die in Deutschland größtenteils ignoriert wird: der Problematik des Hostile-aggressive parenting (HAP), das in diesem Kapitel zur Sprache kommen wird.
Am Beispiel der Problematik des sexuellen Missbrauchs lässt sich darstellen, dass es eine ganze Abfolge von Geschehnissen brauchte, um eine Missbrauchs-Problematik bekämpfen zu können: Es brauchte zuerst die gesellschaftliche Ächtung des Problems, dann entsprechende Gesetze, dann Methoden zur Erkennung von Kindesmissbrauch und schließlich eine stringente Rechtsanwendung. Bei nicht-körperlichen und nicht-sexuellen Formen von Gewalt, Misshandlung und Missbrauch, ist demgegenüber festzustellen, dass unsere Gesellschaft eher am Anfang steht: Wir sind im Stadium der Entwicklung einer Ächtung, wie folgendes Beispiel zeigt.
Ein nicht seltenes Problem bei Elterntrennungen ist die Entfremdung eines Kindes vom getrenntlebenden Elternteil. Eine landläufige Reaktion zu Eltern-Kind-Entfremdung war oft Ratlosigkeit, man fand sich damit ab, dass das 'vorkommt'. Von den meisten Experten wird eine induzierte Entfremdung des Kindes vom anderen Elternteil heute jedoch als eine schwerwiegende Form von Kindesmisshandlung gewertet (Boch-Galhau, 2012). In unserer Gesellschaft entwickelt sich also erst ein Bewusstsein dafür, dass induzierte Eltern-Kind-Entfremdung nicht hinnehmbar ist - wir üben noch den ersten Schritt, auf dem Stadium der Ächtung.
Die anderen Schritte fehlen teilweise oder gänzlich: Eltern-Kind-Entfremdung wurde vom Gesetzgeber nicht explizit berücksichtigt, Methoden zur Früherkennung und Prävention sind nicht vorhanden, und schließlich scheitert die Anwendung von eigentlich anwendbaren Gesetzen, weil keine Therapiekonzepte existieren, um Eltern-Kind-Entfremdung behandeln zu können. Die finale Diagnose des Kinder- und Jugendschutzes lautet dann oft: "Das Kind ist entfremdet, wir können nichts mehr tun".
Warum scheitern unsere Gesellschaft, unser Rechtssystem und unser Kinderschutz bei einem solchen Thema bereits beim ersten Schritt? Wie zuvor beschrieben, bräuchte es eine geeignete Rechtspraxis und Methoden, um das Problem erkennen und behandeln zu können, und hier tritt eine Lücke im System auf: das Kindeswohl und seine 'Gefährdung'.

Das Kindeswohl

Der Begriff Kindeswohl stellt rechtlich ein sogenanntes Tatbestandsmerkmal dar, mit der rechtstechnischen Quantifizierung des 'unbestimmten Rechtsbegriffs'. Damit ist der Begriff beliebig ausfüllbar und interpretierbar. Das Dogma des unbestimmten Rechtsbegriffs suggeriert, dass Kindeswohl nicht bestimmbar sei. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn Kindeswohl ist einfach eine Kindheits-bezogene Lebensqualität und diese kann bestimmt und vermessen werden, wie auch andere Lebensqualitäts-Maße.
In der Medizin und den Lebenswissenschaften werden Lebensqualitätskonzepte seit vielen Jahrzehnten entwickelt und eingesetzt. Klinische Studien zum Beispiel, in welchen die Wirksamkeit eines Medikaments untersucht wird, werden von Zulassungsbehörden heutzutage nicht mehr akzeptiert, wenn neben der Wirksamkeit nicht auch Nebenwirkungen und Lebensqualitätsaspekte untersucht wurden. Dies stellt dem Kinderschutz eine grundlegende Frage: wenn wir eine medizinische Therapie allgemeiner als 'Intervention' bezeichnen, warum untersuchen wir dann nicht auch den Erfolg der 'Interventionen' von Jugendämtern und Familiengerichten, wenn die betroffenen Patienten - die Kinder - oft ein Leben lang betroffen sind von deren 'Interventionen'?

Kindeswohl ist kategorisierbar

Entscheidungsträger an Familiengerichten und Jugendschutzbehörden sollen sich am Kindeswohl orientieren, umso mehr, wenn aufgrund eines Antrages oder Vorkommnisses über Begriffe wie Kindeswohlgefährdung, Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlung zu entscheiden ist. Die zur Verfügung stehenden 'Interventionen', wie z. B. der Entzug des Sorgerechts, sind dabei Entscheidungs-Unsicherheiten ausgesetzt: der schwachen Abgrenzbarkeit überlappender Begriffe, der Natur von Gefährdungen, die sich auf einer kontinuierlichen Skala bewegen, und dem Fehlen von präzise definierbaren Schwellenwerten.
Die Aufgabe von Jugendämtern und Gerichten, über die Art und den Grad einer Intervention zu entscheiden, stellt im Wesentlichen ein Skalenproblem dar. Sorgerechtliche Entscheidungen lassen sich zwar nicht kontinuierlich, aber als Rangordnung darstellen, z. B. ausgehend von der Ablehnung eines Handlungsbedarfs, über Beratungsaufforderungen an die Eltern und schwache oder starke sorgerechtliche Maßnahmen wie Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts, bis hin zu drastischen Maßnahmen zum Schutz des Kindes, z. B. in Form eines Sorgerechtsentzugs oder durch eine Inobhutnahme des Kindes. Eine mögliche Kategorisierung wird in Tabelle 1 dargestellt.

Tabelle 1. Kategorisierung von Kindeswohl-Verlust nach Schweregrad
Kategorie Beschreibung, Vorgehensweise, Maßnahmen. (Verlust von Kindeswohl)
Kategorie 0 Kein Risiko, kein Handlungsbedarf
Es handelt sich um eine Situation / um ein Elternverhalten mit marginaler Relevanz für das Kind; die Situation erzeugt noch keinen Handlungsbedarf. (Kein Kindeswohlverlust erkennbar, Verlust: 0 %)
Kategorie 1 Verbesserungsbedarf
Die Eltern sollen zum Wohle des Kindes die Situation auf freiwilliger Ebene verbessern, ggf. durch unterstützende Angebote wie Beratung, Mediation, etc. (Verlust: bis 23%)
Kategorie 2 Benachteiligung des Kindes
Die Eltern sollen zum Wohle des Kindes die Situation verbessern, eine Kontrolle diesbezüglich ist notwendig, z. B. durch die Institutionen der Familienhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe, etc. (Verlust: 23% bis 45%)
Kategorie 3 Beeinträchtigung des Kindes
Die Situation lässt eine sorgerechtliche Relevanz erkennen, eine Intervention kann deshalb relevant sein/werden, u. U. ist die Einschaltung eines Familiengerichts notwendig. (Verlust: 45% bis 73%)
Kategorie 4 Gefährdung des Kindes
Der Schutzauftrag des Staates wird relevant und erfordert Maßnahmen wie z. B. Sorgerechtsentzug, Vormundschaft, (vorübergehende) Fremdunterbringung, o. ä. (Verlust: 73% bis 100%)
Kategorie 5 Akute Gefahr für das Kind
Eine Inobhutnahme des Kindes ist sofort und zweifelsfrei notwendig. (Verlust: größer als 100%)

Die Kategorisierung eines Problems ist einfach, wenn unsere Gesellschaft einen Konsens dafür gefunden hat, wie es zu behandeln ist. Für den Fall des sexuellen Kindesmissbrauchs wurde Konsens erreicht, denn wir verlangen heute, dass das Kind sofort und umfassend geschützt wird (Kategorie 5) und die Täter verurteilt werden. Eine Kategorisierung wird schwieriger, wenn weniger Konsens besteht. Einige Beispiele können dies veranschaulichen.
Ein häufiges Problem bei Elterntrennungen kommt aus dem Bereich der sog. Umgangsproblematik und kann sich z. B. so ausprägen: Der Elternteil verhält sich unkooperativ oder behindernd, wenn anstehende Umgangs- und Ferienregelungen vernünftig und zeitnah geregelt werden sollen. Befragt man Menschen, in welcher der Kategorien in Tabelle 1 sie dieses Problem behandeln würden, so sehen die meisten dies als einen Verbesserungsbedarf oder als eine Benachteiligung des Kindes, manche auch schon als eine Beeinträchtigung des Kindes (Kategorien 1, 2, 3) (Duerr et al., 2015). Manche der Befragten können eine Einordnung schnell und sicher vornehmen, andere hingegen nicht, weil ihnen der Sachverhalt nicht genügend spezifiziert erscheint, oder ähnliches. Solche Unsicherheiten sind Standardprobleme, die in den Lebens- und Sozialwissenschaften durch geeignete Methoden behandelt werden, in der Regel durch statistische Methoden zur Bestimmung eines mittleren Wertes oder Bereiches und seiner Unsicherheit.

Von der Kategorisierung bis zur Schätzung des Kindeswohls

Kindeswohl zu definieren ist möglich, wenn eine Kategorisierung geschaffen wurde und die Beurteilungen der Befragten durch Methoden aus den Bereichen der Skalenbildung, der Psychometrie, oder ähnlichen Wissenschaftsbereichen geeignet ausgewertet werden. Bezeichnet man Kindeswohl als kindliche Lebensqualität, so eignet sich eine Prozentskala, die den Verlust von kindlicher Lebensqualität in den Grenzen von 0 und 100% beschreibt. Am unteren Ende der Skala bezeichnet ein Verlustwert von 0 % die Abwesenheit eines Lebensqualitätsverlusts, am oberen Ende stehen 100% für den vollständigen Verlust von kindlicher Lebensqualität. Jenseits der 100%-Grenze liegen die Formen des Missbrauchs und der Misshandlung, so auch der sexuelle Missbrauch.
Liegen eine Kategorisierung und eine Skala vor, lässt sich der Schweregrad bestimmter Sachverhalte einordnen, z. B. durch ein Rating-Verfahren, das als Delphi-Verfahren bezeichnet wird, wenn es in mehreren Runden durchgeführt wird. Ein in Deutschland entwickeltes Instrument verwendete diese Methodik, um den Kindeswohl-relevanten Schweregrad von Sachverhalten zu schätzen, die bei konflikthaften Elterntrennungen auftreten (Duerr et al., 2015). Auf der Basis dieses Instruments wird im Folgenden der Begriff des 'Verlusts von Kindeswohl' betrachtet, unter Verwendung von KiMiss-Methodik (der Begriff KiMiss stellt eine verallgemeinernde Kurzform für die verschiedenen Formen von KindesMisshandlung und KindesMissbrauch dar).

Kindeswohl ist nicht 'unbestimmt' sondern quantifizierbar

Es wurde oben bereits ein Sachverhalt aus dem Themenbereich der Umgangsstreitigkeiten angesprochen: Der Elternteil verhält sich unkooperativ oder behindernd, wenn anstehende Umgangs- und Ferienregelungen vernünftig und zeitnah geregelt werden sollen. Im KiMiss-Rating wurde dieser Sachverhalt durch einen Verlust von Kindeswohl von 24% geschätzt (Duerr et al., 2015). Die befragten Experten ordneten den Sachverhalt in Kategorie 1 ein, weil sie im Mittel der Meinung waren, dass ein 'Verbesserungsbedarf' vorliegt (Definition siehe Tabelle 1).
Ein Sachverhalt aus Kategorie 2, der eine 'Benachteiligung' des Kindes beschreibt (s. Tabelle 1) lautet zum Beispiel: Der Elternteil lehnt professionelle Unterstützung oder die Vermittlung durch Mediatoren oder andere Berater ab, die Eltern in der Kommunikation und in der Ausübung der gemeinsamen Sorge unterstützen können. Dieser Sachverhalt wurde auf einen Kindeswohl-Verlust von 30% geschätzt, was sich vereinfachend auch so formulieren lässt: dem Kind werden 30% einer unbeschadeten oder unbeeinträchtigten Kindheit genommen. Beispiele zu höheren Verlustwerten können dies weiter verdeutlichen.
Ein Sachverhalt, der durch einen Kindeswohl-Verlust von 66% geschätzt wurde, ist folgender: Der Elternteil ist unwillig oder unfähig, ein Elternverhalten, das dem Kind schadet, zu verbessern, obwohl von offizieller Seite (Gericht, Jugendamt, etc.) über die dadurch entstehenden Gefahren für das Kind aufgeklärt wurde. Einem Kind würden demnach zwei Drittel einer unbeschadeten Kindheit genommen, wenn ein Elternteil systematisch Dinge tut, die dem Kind schaden (die andererseits noch nicht so schwerwiegend sind, dass man es als Kindeswohlgefährdung bezeichnen müsste).
Die Beispiele zeigen, dass die Schätzung des Schweregrads solcher Sachverhalte nicht grundsätzlich schwierig ist, sondern nur die Anwendung geeigneter Methoden erfordert. Wenden wir uns kritischen Fällen zu, wenn es um eine sogenannte Kindeswohlgefährdung geht.

Was ist Kindeswohlgefährdung?

Der Bundesgerichtshof hat am 23.11.2016 definiert: Eine Kindeswohlgefährdung [...] liegt vor, wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. [...].
Eine solche Definition erzeugt mehrere Probleme: Was ist eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, gibt es unerhebliche Schädigungen, was ist eine ziemliche Sicherheit, ...? Hierfür gibt es eine Lösung: wir müssen solche Begriffe mit konkreten Werten füllen - der Verlust von Kindeswohl bietet ein solches Maß. Eine Kindeswohlgefährdung ist in der KiMiss-Terminologie definiert im Bereich von 73% bis 100% Kindeswohl-Verlust. Drei Beispiele im Abstand von circa 10% können diesen Bereich konkreter beschreiben. Die Beispiele entstammen der KiMiss-Liste, die 150 Sachverhalte und Elternverhaltensweisen beschreibt, die unter Elterntrennungen beobachtet werden (KiMiss-Institut, 2015). Die Sachverhalte (Items) werden durch die Nummern G001 bis G150 gekennzeichnet.
Beispiel 1, mit 76% Kindeswohlverlust: Der Elternteil hat das Kind gegen seinen Willen und unter Einsatz eines Schlosses oder einer anderen mechanischen Vorrichtung eingesperrt, um das Kind zu bestrafen, es von einem Telefonkontakt mit dem anderen Elternteil abzuhalten, oder um seine Flucht zum anderen Elternteil zu verhindern (KiMiss-Item G020).
Beispiel 2, mit 86% Kindeswohlverlust: Das Kind hat sich Selbstverletzungen oder -verstümmelungen zugefügt, oder hat einen Suizidversuch begangen, während es in der Obhut des Elternteils stand, und der Vorfall kann in Verbindung gebracht werden mit der Erziehungssituation durch den Elternteil (KiMiss-Item G141).
Beispiel 3, mit 95% Kindeswohlverlust: Der Elternteil hat das Kind in Kontakt mit einer Person gebracht, welche sexuellen Kindesmissbrauch bereits begangen hat, oder der Elternteil hat versucht, dies im Rahmen von Ermittlungen zu verheimlichen (KiMiss-Item G104).
Das letzte Beispiel liegt mit einen Verlustwert von 95% nahe der kritischen Grenze von 100% Verlust von Kindeswohl. Diese Grenze bedarf weiterer Betrachtungen.

Was ist Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch?

Eine Form von Kindesmisshandlung oder Kindesmissbrauch ist in der KiMiss-Terminologie definiert ab einem vollständigen Verlust von Kindeswohl von 100%. Der Referenzfall für diesen Punkt ist der sexuelle Kindesmissbrauch. Die Formulierung "eine Form von Misshandlung oder Missbrauch" beschreibt, dass sich die Begriffe nicht mehr auf körperliche Misshandlung und sexuellen Missbrauch beschränken, sondern allgemeinere Gültigkeit haben. Auf diese Weise werden auch andere Formen von Missbrauch und Misshandlung berücksichtigt, so zum Beispiel auch der emotionale Missbrauch oder die psychische Misshandlung eines Kindes.
Es besteht zunehmend Einigkeit darüber, dass von sexuellen und nicht-sexuellen Missbrauchs- und Misshandlungsformen vergleichbare Schädigungen ausgehen (Egeland, 2009). Studien in Großbritannien, USA und Deutschland berichten von einer Prävalenz von ca. 10% der befragten Kinder (Edwards et al., 2003; Finkelhor et al., 2005; Iffland et al., 2013), aus osteuropäischen Ländern werden Schätzwerte von bis zu 33% berichtet, abhängig von Land und Kategorisierung des Schweregrades (Sebre et al., 2004). Dass die geschätzten Prävalenzen unterschiedlich hoch ausfallen, begründet sich dabei nicht durch die Länder, sondern durch die Unterschiedlichkeit der verwendeten Methoden und Definitionen. Es braucht deshalb Konzepte, die sich verallgemeinern lassen. Eines der Konzepte ist hostile-aggressive parenting, übersetzt: Feindselig-aggressives Elternverhalten.

Hostile-aggressive parenting (HAP)

Hostile-aggressive parenting (HAP) beschreibt ein feindselig-aggressives Elternverhalten, das sich in vielen Ausprägungen und Varianten darstellt: HAP-Eltern benutzen ein Kind, um den anderen Elternteil zu demütigen, zu schikanieren oder zu quälen, sie provozieren und schüren Konflikte, um das Kind an sich zu binden, sie hetzen die Kinder gegen den anderen Elternteil auf, und ähnliches. HAP geht oft einher mit psychischen Auffälligkeiten wie der narzisstischen Persönlichkeitsstörung oder dem Borderline-Syndrom und korreliert mit dem Parental Alienation Syndrome (PAS, Eltern-Kind-Entfremdung) (Boch-Galhau, 2012).
HAP wirkt sich nachteilig auf die Entwicklung von Kindern aus, wird jedoch erst seit der Jahrtausendwende eingehender beschrieben und untersucht (Buehler/Benson/Gerard, 2006; Buehler et al., 1994; Lipman et al., 2002). Die negativen Folgen für die kindliche Entwicklung können weit in das Erwachsenenalter und in das spätere Beziehungsverhalten hineinreichen (Amato/Sobolewski, 2001; Kelly, 2000; Wekerle/Wolfe, 1999).
Die Problematik von HAP wird in Deutschland überwiegend ignoriert. Einer der Gründe geht zurück auf ein Gesetz mit ursprünglich guten Absichten. Die deutsche Gesetzgebung hat im Jahr 2000 mit dem Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung das Prinzip 'Hilfe statt Strafe' verankert. Der damalige Gesetzentwurf formulierte: "Ziel des Gesetzentwurfs ist die Ächtung der Gewalt in der Erziehung ohne Kriminalisierung der Familie. Nicht die Strafverfolgung oder der Entzug der elterlichen Sorge dürfen deshalb in Konfliktlagen im Vordergrund stehen, sondern Hilfen für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Eltern".
Diese ursprünglich gute Absicht verkehrt sich für Kinder in ein verheerendes Gegenteil, wenn bestimmte Formen von Missbrauch nicht erkannt werden. Wenn es heute undenkbar ist, ein Kind bei einem Elternteil zu belassen, der es sexuell missbraucht, warum wird dasselbe nicht beim emotionalen Missbrauch getan, wenngleich wir doch wissen (Egeland, 2009), dass dieser nicht harmloser ist? Das Konzept 'Hilfe statt Strafe' verkehrt sich bei unerkanntem Missbrauch in sein Gegenteil und macht Kinder zu Opfern eines unfähigen Kinderschutzes: Täter bleiben unbehelligt, sie erhalten 'Beihilfe statt Strafe'. HAP wird von Jugendämtern und Familiengerichten überwiegend ignoriert, weil das Prinzip 'Hilfe statt Strafe' handlungsleitend ist. Zwar ist es richtig, in familienrechtlichen Konfliktlagen eine Deeskalation anzustreben, z. B. durch Hilfsangebote und Beratung. Dies muss jedoch dort enden, wo Missbrauch oder Misshandlung beginnt, und zwar unabhängig davon, um welche Form es sich handelt (sexuell, emotional, psychisch, etc.).
Die meisten Fälle einer HAP-Problematik beginnen mit 'Kleinkonflikten', zum Beispiel mit Beeinflussung oder Vorenthaltung des Kindes, mit betrügerischem Verhalten, Umgangskonflikten, etc. Diese Konflikte erscheinen oft marginal und erzeugen für Jugendämter und Gerichte regelmäßig keinen Handlungsbedarf. Eine HAP-Problematik jedoch bewegt sich auf einer Skala und HAP-Eltern eskalieren entlang dieser Skala, wenn nicht interveniert wird, getrieben von der Feindseligkeit dem anderen Elternteil gegenüber. Ab wann dabei die Schwelle zu einer Kindeswohlgefährdung überschritten wird, oder gar eine Schwelle zu Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch, bedarf einer Definition von Schwellenwerten. Dies ist die Aufgabe und Funktion eines HAP-Instruments; im Folgenden beschrieben am Beispiel des KiMiss-Instruments (KiMiss-Institut, 2019).

Prävention durch KiMiss-Methodik

Diagnostische Instrumente sollen ein Problem frühzeitig erkennen. Das KiMiss-Instrument ist ein Screening-Instrument: es ist sensitiv und erkennt frühzeitig das Vorliegen einer HAP-Problematik. Diagnostisch ist dabei wie immer zu beachten: Ein Screening-Instrument dient dem Auffinden eines Problems, es erzeugt jedoch (infolge hoher Sensitivität) auch falsch-positive Ergebnisse. Deshalb muss es kombiniert werden mit einem Bestätigungstest, der (mit hoher Spezifität) die falsch-positiven Ergebnisse wieder herausfiltern kann. Der Bestätigungstest wird im Bereich von familienrechtlichen Vorgehensweisen am ehesten durch Fachpersonal repräsentiert - sie müssen überprüfen, ob sich das Ergebnis des Screening-Verfahrens fall-spezifisch bestätigt.
Viele Sachverhalte der KiMiss-Liste beschreiben niederschwellige Probleme. Wenn Jugendämter und Familiengerichte niederschwellige Probleme nicht summieren, können sie einen Handlungsbedarf nicht sehen. Das KiMiss-Instrument hingegen identifiziert bereits in den unteren Kategorien einen Handlungsbedarf, der sich als Verbesserungsbedarf oder als Benachteiligung des Kindes darstellt (siehe Tabelle 1, Kategorie 1 und 2). Das Instrument fordert zum Handeln nicht erst dann auf, wenn ein stärkerer Kindeswohl-Verlust vorliegt, der dann als Beeinträchtigung oder Gefährdung des Kindes beschrieben werden muss (Kategorie 3 und 4). Das Instrument im Sinne von Prävention zu verwenden, bedeutet, Eltern frühzeitig zu signalisieren, dass ein Problem nicht nur vorliegt, sondern auch gesehen wird. In der praktischen Elternarbeit mit dem KiMiss-Instrument hat sich gezeigt, dass schon allein die institutionelle Verwendung der KiMiss-Liste viele Eltern davon abhält, Konflikte zu betreiben, wenn sie wissen, dass diese Probleme nicht nur gesehen, sondern auch gewertet werden.
Es gab im Jahr 2020 ein herausragendes Filmereignis zu diesem Thema: der Film 'Weil du mir gehörst'. Er beschreibt das Leben der achtjährigen Anni, die durch HAP vollständig vom Vater entfremdet wird. Anni wächst zunächst unter den 'üblichen' Elternkonflikten auf, wird dann 'umgezogen', was sich mehr und mehr als Kindesentziehung herausstellt und dazu führt, dass Anni vom Vater entfremdet wird und sie sich schließlich Selbstverletzungen zufügt. Der Film ist eine charakteristische Beschreibung für etwas, dass wir in Deutschland noch nicht systematisch benennen: HAP, bzw. eine KiMiss-Problematik. Wer HAP oder die Mechanismen einer induzierten Eltern-Kind-Entfremdung nicht kennt, dem sei dieser Film wärmstens empfohlen, oder auch seine Beschreibung im Rahmen der KiMiss-Falldokumentationen (KiMiss-Institut, 2020).
Das durch den Film sehr charakteristisch dokumentierte, vollständige Versagen eines Kinderschutzsystems lässt sich auf einen trivialen Systemfehler reduzieren: im Falle von Anni wurde nie eine Summe gebildet über die Sachverhalte und Lebensumstände, derer sie ausgesetzt war.

Trivial, methodisch jedoch delikat: Kindeswohlgefährdung ist eine Summe

Ein Rating-Verfahren kann, wie oben beschrieben, für jeden Sachverhalt der KiMiss-Liste einen Verlust von Kindeswohl quantifizieren. Liegen in einem Fall mehrere Sachverhalte vor (was die Regel ist), entsteht die Frage, in welcher Form die Verlustwerte der einzelnen Sachverhalte summiert werden können, um einen Gesamtverlust von Kindeswohl schätzen zu können. Hierbei gibt es die methodische Schwierigkeit, dass Sachverhalte gewichtet und thematische Überlappungen zwischen Sachverhalten bereinigt werden müssen. Thematische Überlappungen von Sachverhalten lassen sich durch Themenbereiche bereinigen (Duerr/Hautzinger, 2019), innerhalb derer verwandte Sachverhalte zusammengefasst werden. Die KiMiss-Liste definiert 11 Themenbereiche:
  1. Elternverhalten, das sich gegen das Kind richtet
  2. Elternverhalten, das sich gegen den anderen Elternteil richtet
  3. Kindesverhalten, das sich gegen einen Elternteil richtet
  4. Elternverhalten, das sich gegen den Kontakt zwischen Kind und anderem Elternteil richtet
  5. Elternverhalten, das sich gegen eine gemeinsame Sorge richtet
  6. Entfremdung des Kindes vom anderen Elternteil
  7. Justiz & Jugendamt
  8. Erziehungskompetenz eines Elternteils
  9. Finanzielles
  10. Vernachlässigung des Kindes
  11. Medizin & Gesundheit
Zusätzlich zu einer Bereinigung von Überlappungen müssen Sachverhalte in mehreren Dimensionen gewichtet werden, denn es gibt gesichert vorliegende Sachverhalte auf der einen Seite, unsicher vorliegende auf der anderen Seite, Sachverhalte können lange vergangen sein, oder erst kürzlich geschehen, sie können stark oder schwach ausgeprägt sein - all das zu berücksichtigen bedarf einiger methodischer Anstrengungen und letztlich der Entwicklung eines Algorithmus, der die Grundlage des KiMiss-Instruments bildet (Duerr/Hautzinger, 2019).

Das KiMiss-Instrument

Das KiMiss-Instrument basiert auf der KiMiss-Liste, die das Vorliegen von 150 HAP-Sachverhalten abfragt und Angaben zu drei Gewichtungsgrößen verlangt: in welchem Schweregrad ein Sachverhalt vorliegt, ob er sich hinreichend gut darstellen lässt ('beweisbar' ist), und ob er aktuell vorliegt oder eher in der Vergangenheit lag. Der KiMiss-Algorithmus summiert die gewichteten Antworten und projiziert den Summenscore auf die Skala des Verlusts von Kindeswohl. Die durch einen KiMiss-Befund dargestellten Ergebnisse müssen abschließend von einer fachkundigen und unabhängigen Person beurteilt werden, um eine Korrektur zu erlauben, falls das Screening-Instrument zu einem Ergebnis kam, das über-sensitiv erscheint.
Ein definitiver Handlungsbedarf wird auf der KiMiss-Skala durch die 50%-Marke definiert, die den 'überwiegenden' Kindeswohlverlust anzeigt. Die Formulierung des 'überwiegenden' Kindeswohlverlusts beschreibt, dass ein Handlungsbedarf nicht mehr abgelehnt werden kann, denn ein Verlust von mehr als 50% impliziert, dass mehr Kindeswohl verloren geht als erhalten bleibt. Die KiMiss-Skala lässt Luft für ein Handeln gemäß 'Hilfe statt Strafe' bis zu einem Wert von 73 %, denn ab da beginnt der Bereich dessen, was in Deutschland als Kindeswohlgefährdung bezeichnet wird. Ab 100% Verlust beginnt der Bereich des 'vollständigen' Verlusts von Kindeswohl: ist alles Kindeswohl verloren gegangen, entspricht dies dem Vorliegen einer Form von Kindesmissbrauch oder Kindesmisshandlung, unabhängig von der Frage, um welche Form des Missbrauchs oder der Misshandlung es sich dabei handelt.

Warum 'Verlust von Kindeswohl'?

Als Name für eine relevante Maßzahl hätten auch Begriffe wie z. B. Belastungsscore für Trennungskinder, HAP-Score, Hochstrittigkeits-Index, o. ä. gewählt werden können. Der Grund, den hier verwendeten Score jedoch als 'Verlust von Kindeswohl' zu bezeichnen, folgte der Notwendigkeit, die Kindeswohl-Relevanz des Themas aufzuzeigen: der Mythos des 'Unbestimmten Rechtsbegriffs' ist nicht länger haltbar - Kindeswohl ist kein unbestimmbarer Begriff, sondern eine kindliche Lebensqualität, die sich schätzen und quantifizieren lässt .

Literatur

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Veröffentlichungen:
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