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Entfremdung

Eltern-Kind-Entfremdung

Übersetzung des Artikels

Marie France Hirigoyen: "Elterliche Entfremdung ist ein Trauma mit verheerenden Auswirkungen"

Interview der Zeitschrift La Vie, 24.06.2024 1

Sie ist Pionierin im Bereich von Mobbing und Gewalt gegen Frauen: Die Psychiaterin Marie-France Hirigoyen weist heute auf das Leiden der Kinder bei manch einer schwierigen Scheidung hin.
In ihrem Werk Séparations avec enfants. Conflits, violences, manipulations 2 (erschienen bei La Découverte, 2024) entwickelt die Psychiaterin und Psychotherapeutin Marie-France Hirigoyen das Konzept der Elterlichen Entfremdung. Sie macht Eltern, Richter und politisch Verantwortliche auf die Folgen dieser Misshandlung, wie manche Kinder sie erfahren, für diese selbst und für die Gesellschaft aufmerksam. Dabei weist sie auch darauf hin, dass der Begriff umstritten ist und jüngst durch den Richter Édouard Durand und die Commission indépendante sur l’inceste et les violences sexuelles faites aux enfants (Civiise) 3 in Frage gestellt wurde.

LA VIE: Können Sie uns das Konzept Elterliche Entfremdung erklären? Warum ist es umstritten?

MARIE-FRANCE HIRIGOYEN: Elterliche Entfremdung ist ein spezieller mentaler Zustand, der bei einem Kind entstehen kann, wenn es bei der Trennung seiner Eltern in einem sehr intensiven Konflikt gefangen ist: Um selbst weniger zu leiden, kann es dazu kommen, dass das Kind eine sehr starke Allianz mit einem Elternteil eingeht und sich vom anderen Elternteil entfernt, manchmal so weit, dass es jeden Kontakt mit ihm verweigert, obwohl es vorher eine liebevolle Beziehung mit ihm hatte.
Es kommt vor, dass die Eltern sich im Zuge einer Trennung in einem Moment der Schwäche zu sehr an ihre Kinder klammern oder sogar bewusst oder unbewusst den anderen Elternteil zu disqualifizieren versuchen. Für das Kind ist das überaus schädlich, es hält die Situation aber meistens aus und versucht, neutral zu bleiben. Bei elterlicher Entfremdung sehen wir, dass die Haltung eines liebenden Kindes in massive Ablehnung umschlägt und dass sein Verhalten sich radikalisiert. Dabei verfestigt sich die feindliche Einstellung, verhärtet sich schließlich, und ist für kein Argument mehr zugänglich.
Fachleute haben derartige Situationen schon seit langem beschrieben; der Kinderpsychiater Richard Gardner, der den Begriff 1992 präziser definierte, wies darauf hin, dass er sich nicht auf Fälle von tatsächlichem Missbrauch oder von Vernachlässigung bezieht. Er weist die direkte oder indirekte Verantwortung demjenigen Elternteil zu, der das Kind dazu konditioniert hat, den anderen Elternteil abzulehnen. Damals hatten meist Mütter die elterliche Sorge nd waren dadurch eher in der Lage, die Entfremdung zu betreiben; dabei waren Feministinnen der Meinung, Väter könnten den Begriff missbrauchen, um Gewalt zu verschleiern.

Und heute?

M.-F.H.: Heute spricht man nicht mehr von Parental Alienation Syndrom (PAS), sondern von elterlicher Entfremdung (PA, Parental Alienation), denn beim Kind liegt nicht ein Syndrom, sondern eine Störung der Eltern-Kind-Beziehung vor. Polemisch ist das Thema immer noch, aber es wird häufig von Anwälten ins Feld geführt, um "ein Scheidungsverfahren zu gewinnen".
Der erste Vorbehalt gegen dieses Konzept besteht darin, dass es nicht in den internationalen Systematiken - dem Klassifikationssystem für psychische Störungen (DSM-5) und der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) - erfasst ist, auch wenn es mittelbar dennoch in der Rubrik Eltern-Kind-Beziehung erwähnt ist.
Die Kritiker der Elterlichen Entfremdung sind mehrheitlich sehr in die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen eingebunden. Ihres Erachtens kann dieses Konzept dazu benutzt werden, männliche Gewalt zu verschleiern und Inzest zu leugnen. Dabei vergessen sie, dass elterliche Entfremdung nicht geschlechterspezifisch ist und auch durch einen kontrollierenden Vater eingesetzt werden kann: "Wenn Du mich verlässt, bekommst Du die Kinder nicht!" oder durch eine in ihrer persönlichen Entwicklung fragile Mutter.
Wie immer bei sehr emotionalen Themen haben wir es mit einer kognitiven Befangenheit zu tun, die das Denken lähmt. Man operiert mit Ängsten, um ablehnende kognitive Reaktionen zu erzeugen. Diese erste Leugnung bestand in der Verknüpfung mit dem vermeintlich krankhaften Bild von Richard Gardner (der für seine Haltung zur Pädophilie kritisiert wurde; Anm. d. Red.) als abschreckendes Beispiel und als Disqualifikation des Begriffs als solchem.
Eine weitere missbräuchliche Vermischung erfolgte im Bereich Inzest: Es geht gar nicht darum, die dramatische Realität des Inzests zu leugnen; aber es sieht so aus, als ob die Ausleuchtung des Inzests nach jahrzehntelanger Leugnung derart gewaltig gewirkt hat, dass man andere Misshandlungen von Kindern gar nicht mehr wahrnahm. Dasselbe sehen wir beim Leugnungsverhalten eines entfremdenden Elternteils, der ohne irgendeinen objektiven Grund absolut überzeugt ist, dass der andere Elternteil gefährlich für das Kind ist.
Kognitive Verzerrungen sind ansteckend, denn in ihrer Konformitätsbefangenheit stützen sich Personen, die sich über das Thema informieren wollen, auf die Meinung der radikalsten Vertreter, weil sie überzeugender wirken. So kam es, dass auf den Druck einer Senatorin hin 2018 eine Notiz auf der Internetseite des (französischen; Anm. d. Übers.) Justizministeriums online gestellt wurde - was illegal ist - um die Richter darüber zu informieren, dass dieses Konzept umstritten ist.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt die Elterliche Entfremdung jedoch an und unterstreicht, dass Gerichte schnell handeln müssen, sobald es erste Anzeichen für einen Beziehungsverlust gibt.

Sind Richter und Sozialarbeiter hinreichend geschult, um derartige Entfremdungssituationen zu erkennen und die Kinder zu schützen?

M.-F.H.: Richter befinden sich in derartigen Situationen in einer paradoxen Lage. Wie sollen sie ein Urteil erstellen, wenn sie Tatsachen feststellen, der Begriff aber von Verbänden für den Schutz von Frauen, die Gewaltopfer geworden sind, beanstandet wird? Unsere Familienrichter sind leider nicht ausreichend geschult und haben auch zu wenig Zeit für jeden einzelnen Fall. Die Kinder- und Jugendrichter haben die Möglichkeit eine soziale/psychologische Untersuchung zu beauftragen. Sie werden aber nur in schweren Fällen damit befasst, wenn es oft bereits zu spät ist.
Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass Situationen, in denen Beziehungsverlust oder elterliche Entfremdung droht, sehr früh erkannt werden, und dass die Kinder angehört und verstanden werden, denn wenn das Band erst einmal gerissen ist, greifen die psychologischen Werkzeuge, die die Gerichte zur Verfügung haben, nicht mehr.

Welche Folgen hat Elterliche Entfremdung für das Kind?

M.-F.H.: Elterliche Entfremdung ist ein Trauma mit verheerenden Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung eines Kindes und seine psychoaffektive Entwicklung. Kurzfristig hat man möglicherweise den Eindruck, dass es dem entfremdeten Kind gut geht, was häufig jedoch eher auf einer oberflächlichen Persönlichkeit und falschen Reife so erscheint. Um seine Angst zu beherrschen, spaltet sein Ich sich in zwei Teile, um die traumatischen Erinnerungen zu isolieren; das Wiederauftauchen von Angstsymptomen und Somatisierung werden dadurch jedoch nicht verhindert. Diese Kinder haben im Erwachsenenalter ein erhöhtes Risiko für Persönlichkeitsstörungen und eine einseitige Weltsicht.

Wie kann eine Trennung so gelingen, dass es den Kindern gut geht?

M.-F.H.: Idealerweise sollten Kinder aus jeglichem Konflikt bei der Trennung der Eltern herausgehalten werden. Am besten ist es, wenn die Eltern sich im Vorfeld einigen, bevor sie den Kindern ankündigen, was mit ihnen passieren soll und wenn sie ihnen die Dinge erklären, die sie direkt betreffen, also wo sie wohnen und auf welche Schule sie gehen werden, und gleich dazu zu sagen, dass sie beide Elternteile auch weiterhin gleich liebhaben dürfen. Natürlich sollte der andere Elternteil nicht vor den Kindern kritisiert werden.

Was kann die Gesellschaft tun, damit Kinder aus konflikthaften Scheidungen besser geschützt werden?

M.-F.H.: Elterliche Entfremdung ist eine der schwerwiegendsten Formen psychischer Misshandlung von Kindern. Gemäß Artikel 19 der Internationalen Übereinkommens über die Rechte der Kinder aus dem Jahr 1989 haben Kinder das Recht, vor jeder Form der Gewaltanwendung geschützt zu werden. Dieser Text führt außerdem aus, dass Kinder ein Recht auf regelmäßige Beziehungen mit beiden Elternteilen haben.
Die Kinder müssen geschützt werden. Das Problem ist allerdings komplex und erfordert eine multidisziplinäre Herangehensweise, die juristische und psychologische Ansätze vereint. Die jeweiligen Spezialisten müssen also im Interesse der Kinder zusammenarbeiten.
Ideal ist es, wenn die Kinder aus jeglichem Konflikt bei der Trennung der Eltern herausgehalten werden.

Fußnoten

1 Dr. Marie-France Hirigoyen und der Verlag La Vie genehmigten die deutsche Übersetzung dieses Interviews mit E-Mail vom 17. Juli 2024.
2 Wörtlich: Trennungen mit Kindern: Konflikte, Gewalt, Manipulation; Anm. d. Übers.
3 Unabhängige Kommission für Inzest und sexuelle Gewalt an Kindern - Anm. d. Übers.
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